O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Max Ott

Aktuelle Aufführungen

Keine Abgründe

ABGRÜNDE
(Diverse Komponisten)

Besuch am
13. September 2020
(Premiere)

 

Hidalgo-Festival, Einstein-Boulderhalle, München

Vor drei Jahren wurde das Festival Hidalgo von jungen Künstlern und Freunden mit großem, persönlichem Engagement ins Leben gerufen. Die etablierte Veranstaltungswelt der klassischen Musik sollte aufgebrochen werden – neue Ideen, neue Kreationen sollen zu neuen Erlebnissen und neuen Publikumsschichten führen.

Mutig ist das Leitmotiv des diesjährigen Festivals. Scheitern wurde noch vor Corona ausgerufen und gewann in den letzten Monaten zusätzlich an Aussagekraft und Aktualität. Weil die Gesellschaft über Scheitern nicht gerne spricht, sollte dieser intime Moment in den Mittelpunkt gerückt und künstlerisch beleuchtet werden. Mit Corona gewinnt das Thema an Brisanz.

Das Kunstlied ist der Nukleus, um den sich das Festival entwickelt hat und Gesang zieht sich als roter Faden durch die Programmgestaltung. An 24 Plätzen wird Lied öffentlich gemacht, in einem Parkhaus wird Ludwig van Beethovens Liederzyklus An die ferne Geliebte inszeniert und in einer Lied-Tanz-Aufführung werden Lieder zum sich Wiederfinden dargeboten.

Ein Höhepunkt ist der Auftritt des neu gegründeten eigenen Festspielorchesters. Es ist zusammengesetzt aus jungen Musikern, die bereits in großen Orchestern wie dem BR-Symphonieorchester, den Münchner und Berliner Philharmonikern fest angestellt sind. Für wenige Wochen bilden sie diesen neuen Klangkörper unter der Leitung der jungen Dirigentin Johanna Malangre. Zumeist kennen sich Dirigentin und Musiker aus dem gemeinsamen Studium, und die Freude und die Verantwortung, Neues zu schaffen und neue Wege zu gehen, inspiriert und motiviert spürbar alle Beteiligten.

Die Programmgestaltung ist anspruchsvoll und vielversprechend. Außergewöhnlich und dem Duktus des Festivals entsprechend ist der Aufführungsort – eine Kletterhalle nahe der Münchner Innenstadt. Entspannt trifft sich das Publikum vor dem Tor. Ein Zusammenhalt, ein Community-Gefühl macht sich breit. Einige Künstler tauschen sich mit Gästen aus, aus ein paar Fenster ist das Einspielen hör- und sichtbar.

Corona-Auflagen werden eifrig überwacht. Der Gast wird zu seinem Platz in die Halle geführt und in eine andere Konzertwelt entführt. Zwischen zwei gut fünf Meter hohen Kletterwänden, mit bunten Klettergriffen bestückt, wandelt er auf dem weich ausgepolsterten Boden, der den Absturz auffangen soll.  Absturz ist der Konzerttitel, und spätestens hier der Bezug spürbar.  Auf umgedrehten Bierkisten mit einem Filzpolster nimmt das bunte Publikum aus allen Altersklassen ungewohnt Platz.

Das Orchester sitzt mittig, links und rechts reiht sich das Publikum auf. Ein reines Streichorchester in großer Besetzung bietet drei Werke aus dem letzten Jahrhundert. Am Beginn steht das Konzert für Streichorchester der polnischen Komponistin Grazyna Bakewicz. Aus einer Musikerfamilie stammend, machte die 1909 Geborene als Violinistin und Konzertmeisterin Karriere. Später widmete sie sich dem Komponieren und Unterrichten. Opern, Ballette, Symphonien und immer wieder Kammermusik umfassen Ihr Schaffen, ihr Musikstil lotet die Grenzen der Tonalität und Harmonie aus, ist aber tief in Impressionismus und Romantik verankert.

Foto © Max Ott

Flott ist der Einstieg der jungen Dirigentin in den ersten Satz, der von Tempo und sich nach vorne spinnenden Melodien und deren Modulation gekennzeichnet ist. Die vielen bunten Bausteine an der Kletterwand wirken wie eine Abbildung, an denen sich die Musik hochzuarbeiten scheint. Ein Zielpunkt ist nicht erkennbar, und so bleibt ein aufsteigender Klang am Ende im Raum stehend. Slawische Elegie im breiten Strich dominiert den zweiten Satz. Die Musiker schwelgen in Disziplin und technischer Perfektion. Tänzerisch, dem barocken Menuett nachempfunden, wird in exaktem Taktschlag der dritte Satz abwechslungsreich in der Klanggestaltung.

Der Schüler Arnold Schönbergs Hanns Eisler wird der Wiener Schule zugerechnet. Er hinterließ ein großes musikalisches Schaffen, seine Werke werden aber selten in den Konzertsälen gespielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er aufgrund seiner kommunistischen Überzeugung aus seinem Exil in Amerika nach Berlin zurück. Kurz vor seinem Tod 1962 schuf er die Ernsten Gesänge, in denen der Zuhörer dessen wechselhaftes Verhältnis zur DDR erahnen kann. Dunkel, getragen, leidvoll anmutend sind die Sieben Lieder nach Texten von Hölderlin und anderen Lyrikern. Der Bariton Johannes Kammler, Ensemblemitglied der Staatsoper Stuttgart, weiß mit der Stimmung umzugehen und den Spannungsbogen in der Schwermut zu halten. Johanna Malangre verwebt gekonnt das Orchester mit der Stimme. Die Klänge verschmelzen zu einer harmonischen Einheit mit hoher Ausdruckskraft.

Ebenso einfühlsam und in absoluter Perfektion gelingt den Musikern eine berührend packende Interpretation eines der bedeutendsten Werke Arnold Schönbergs. Verklärte Nacht wurde ursprünglich für Streichsextett verfasst, später schuf der Komponist auch eine Fassung für Streichorchester. Ein Gedicht Richard Dehmels liegt dieser Programmmusik zugrunde und erzählt den denkwürdigen Spaziergang eines Paares in der Nacht. Liebe und Eifersucht, Verzweiflung und Hingabe sind in der Klangwelt verarbeitet. Die beiden sind ein Liebespaar, sie gesteht ihm, ein Kind von einem anderen Mann zu erwarten. Der Geliebte will das Kind als sein Kind mit ihr aufziehen. Unglaubliche Worte und Gedanken in einer Zeit sozialer und gesellschaftlicher Veränderung. Große Gefühlswelt in einer unglaublichen Dichte zeichnet diese symphonische Dichtung aus und macht die Aufführung zu einem anspruchsvollen Vorhaben. Noch in der Tonalität verankert, überschreitet Schönberg die Grenzen der Harmonie. Richard Wagner, die Romantik und der Impressionismus finden sich wieder. Berührend und überzeugend gestalten die jungen Musiker ihre zahlreichen Soli, ihr Zusammenspiel gelingt beeindruckend routiniert und präzise. Die Dramatik sowie die Hingabe der Geschichte kann der Zuhörer erfühlen und mitfühlen. In der düster ausgeleuchteten Halle wird er zum Begleiter des Paares. Eine Interpretation von höchster Qualität wird vom ergriffenen Publikum begeistert gefeiert. Zum Absturz kam es nun doch nicht. Scheitern fand an dem Abend nicht statt.

Helmut Pitsch