O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Mit Schwung ins Altbewährte

PRAGUE ROYAL CHAMBER ORCHESTRA
(Diverse Komponisten)

Besuch am
12. November 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Stadthalle, Mülheim an der Ruhr

Jacke aus!“ Wer hier nicht mit dem handelsüblichen Sakko des 72-jährigen Durchschnittsrentners ankommt, wird mit rüdem Ton angewiesen, die Jacke an der Garderobe abzugeben. Modischer Schnickschnack wird vom Einlasspersonal nicht geduldet. Das kennt man aus anderen Konzertsälen. Auch in der Tonhalle in Düsseldorf entscheidet ja das Aufsichtspersonal, in welcher Kleidung man den Saal betreten darf. Auch wenn man dort nicht noch einen zusätzlichen Obolus entrichten muss. Da hat man sich in der Stadthalle in Mülheim an der Ruhr offenbar was abgeguckt. Die wurde 1926 im neo-klassizistischen Stil am Ufer der Ruhr errichtet, 1943 bei einem Bombenangriff zerstört und danach wieder aufgebaut. Seitdem wird das „Wohnzimmer der Stadt“ regelmäßig modernisiert, allerdings möglichst, ohne das Ambiente zu zerstören. Und so ist es bis heute äußerlich ein Schmuckstück längst vergangener Zeiten geblieben. Nicht weit vom Ringlokschuppen, dem Produktionshaus der so genannten Freien Szene, entfernt, ist es heute ein Bespieltheater. Das muss ja grundsätzlich nicht schlecht sein. Ein eigenes Orchester kann sich die Stadt nicht leisten. Aber eine Sinfoniekonzertreihe. Und somit können sich die Mülheimer auf ein internationales Angebot freuen, auch wenn das dann vielleicht eher aus der zweiten Reihe kommt.

Aber eben aus der zweiten Reihe. Und das ist in einer hervorragenden Akustik vollkommen ausreichend. Das Publikum als „Silbersee“ zu bezeichnen, trifft es nicht ganz, denn die silbernen Haare sind längst ausgefallen. Egal, die Besucher kommen. Auch heute Abend ist das Haus sehr gut besucht, wenn man berücksichtigt, dass viele der Plätze gesperrt sind. Was die Senioren nicht im Geringsten bedauern, bringt die Veranstalter in weitere wirtschaftliche Bedrängnis. Die machen sich vermutlich momentan mehr Sorgen, wie es angesichts explodierender Infektionszahlen im Dezember weitergeht. Die erfreuliche Nachricht ist, dass der heutige Abend stattfindet, wenn auch die Solistin eine andere ist als die, die angekündigt wurde.

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Das Publikum muss über die unsäglichen Rechtschreibfehler im Abendzettel hinwegsehen, um zu erfahren, dass das Prague Royal Chamber Orchestra – also das Prager Königliche Kammerorchester – von Heiko Mathias Förster mit dem Ziel gegründet wurde, „an die große Geschichte der einstigen Hofkapelle von Kaiser Rudolf II. anzuknüpfen“ und damit die tschechische Orchestertradition „in die Zukunft zu führen“. Förster selbst studierte Dirigieren, Klavier und Schlagzeug an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin, um sich anschließend auf das Dirigat zu kaprizieren. In Mülheim übernimmt er die musikalische Leitung des 17-köpfigen Streicherorchesters, das mit einem eingängigen Konzert aufwartet.

Bevor es dazu kommt, wartet der nächste Aufpasser. Es ist 19.40 Uhr. „Sie können hier nicht rein, die Aufführung hat bereits begonnen. Müssen 20 Minuten warten“, ist die klare Ansage. „Setzen Sie sich da hin“, gibt es die deutliche Anweisung. „Ich weiß nicht genau, wo ich hin muss …“. Solche Einwände sind für einen geübten Mitarbeiter natürlich eine Farce. „Setzen Sie sich hin, ich zeige Ihnen gleich, wo Sie hinmüssen“, gibt er unmissverständlich zu verstehen. Das sind die Momente, in denen man überlegt, ob man das Konzert wirklich erleben möchte. Die Aufführung hat selbstverständlich noch nicht begonnen. Konzertdramaturgin Eva-Susanne Rohlfing hält eine Einführung im Saal. Und die Aufführung beginnt, wie angekündigt, um 20 Uhr. Der Übergang allerdings ist fließend. Man muss nur den Applaus im Saal abwarten, um sich dann einzureihen. Das Versprechen des Aufpassers, rechtzeitig einen Platz anzuweisen, erfüllt sich nicht. Da muss man sich schon selbst kümmern.

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Das Prague Royal Chamber Orchestra setzt einen ganz eigenen Akzent, indem einige der Damen rote Kleider tragen. Ein bunter Farbtupfer, der vielleicht in Deutschland Schule machen sollte. Mit Antonín Dvořáks Serenade für Streichorchester in E-Dur, opus 22, geht es mit Süßigkeiten los. Förster lässt die fünf Sätze ohne große Akzente durchlaufen. Für ältere Herrschaften ist das herrlich. Da sinken die Köpfe in die Polster. Das ist nicht ganz so, wie sich das Orchester das wünschen dürfte. Dann steht eine Programmänderung an. Ursprünglich war Tamaki Kawakubo als Solistin vorgesehen. Die musste wegen „der in Japan coronabedingt sehr strengen Reisebestimmungen“ absagen. Eingesprungen ist Alissa Margulis, was man eindeutig als Gewinn für den Abend sehen darf. Die hat die Programmreihenfolge in Absprache mit Förster gleich mal geändert. Warum auch immer.

Und so kommt das Publikum zunächst in den Genuss der Havanaise von Camille Saint-Saëns, ehe nach der Pause Introduction et Rondo capriccioso, beide in der Bearbeitung von David Walter, erklingt. Margulis hält sich bei beiden Stücken nicht zurück, zeigt ihre ganze Leidenschaft und motiviert das Orchester zu Höchstleistungen. Ein wunderbarer Vortrag, für den sich die Fahrt nach Mülheim an der Ruhr wirklich lohnt. Als ungefragte Zugabe erklingt Salut, mon amour von Edward Elgar aus dem Jahr 1888, mit dem er auf ein Gedicht seiner Zukünftigen antwortete. Das Salonstück, ursprünglich für Klavier und Geige konzipiert, gehört bis heute zu den beliebtesten Klassik-Werken. Und auch jetzt macht Margulis mit dem Orchester ein wahres Erlebnis daraus.

Aus Holbergs Zeit, Suite im alten Stil, opus 40 macht Förster mit seinem Kammerorchester dann noch einmal ein Fest. Die fünf Sätze rauschen mit Eleganz, Klarheit und Eingängigkeit am Publikum vorbei, das sich zu diesem Zeitpunkt schon sehr dankbar zeigt. Eine letzte Zugabe weckt auch den letzten im Publikum, das sich begeistert dafür bedankt. Irgendwie ist alles wie früher. Und so ziehen die alten Herrschaften zufrieden ihrer Wege. Sie sind nicht mit „neumodischem Kram“ oder irgendwelchen unbekannten Werken konfrontiert worden, sondern konnten Altbekanntes auf hohem Niveau genießen. Und wer mochte, hat gleich noch seine Lieblingswerke auf dem Zettel angekreuzt, der über das Programm zum Wunschkonzert im April kommenden Jahres mitentscheidet.

Michael S. Zerban