O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Klaus Handner

Aktuelle Aufführungen

Angst frisst Seele auf – wenn man sie lässt

PHOBOS
(Maura Morales)

Besuch am
12. Oktober 2018
(Uraufführung)

 

Ringlokschuppen, Mülheim an der Ruhr

Die so genannte freie Szene – und insbesondere der zeitgenössische Tanz – hat ein Problem. Viele kleine Produktionsstätten mit eher geringen Budgets und häufig auch beengte Raumverhältnisse setzen den einzelnen Produktionen schnell Grenzen. Erst allmählich setzt hier ein Umdenken ein, und so wird das neueste Werk der Cooperativa Maura Morales gleich von vier Produktionszentren koproduziert. Für Morales ist es exakt der richtige Zeitpunkt, hat sie doch mit ihrem letzten Stück Anmut und Würde in Krefeld gezeigt, dass ihr Potenzial sich längst nicht in den engen Mauern eines Theaterstudios erschöpft. Und das ist nicht nur räumlich gemeint. Mit Phobos wendet sich die Choreografin einem Thema zu, das die Gesellschaft mehr und mehr beherrscht und damit dringend auf die Agenda des künstlerischen Diskurses gehört. Im Gegensatz zum Rechtsruck, der auf Eskalationsjournalismus trifft und so den Eindruck erwecken kann, es handele sich um ein relevantes Thema, sitzt die Angst fest im Nacken vieler deutscher Bürger und ist so real wie der Gartenzwerg im Schrebergarten. Ob es die begründete Furcht des Mittelstandes vor dem sozialen Abstieg ist, die existenzbedrohende Angst des Sozialhilfeempfängers, der immer rigideren Kürzungsmöglichkeiten bei den Bezügen seitens der Ämter ausgesetzt ist, oder auch die scheinbar bedrohliche Situation, in die sich beispielsweise Künstler begeben, die sich gegenüber ihren Vorgesetzten nicht gefügig zeigen. Angst äußert sich in vielen Facetten und ist bei Weitem bedrohlicher, weil so schlecht greifbar.

POINTS OF HONOR

Musik



Tanz



Choreografie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Was die Cooperativa Maura Morales daraus schöpft, ist nicht weniger als eine mindestens kleine Sensation. Die Bühne 3 im Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr ist komplett schwarz ausgeschlagen. Leuchtstoffröhren hängen wie Fragmente gebrochener Biografien als dekorative Elemente über dem Raum. Für das eigentliche Lichtdesign setzt Grace Morales seitlich Bodenscheinwerfer und LED-Lichtkörper an der Decke ein. Unauffällige Lichtwechsel mit einigen wenigen, gekonnten Reflexen unterstreichen das diffuse Seelenleben der Angst. Wie gewohnt, hat Michio Woirgardt mit seinen Computern und Instrumenten am linken Bühnenrand Platz genommen. Er wirkt ein wenig angespannt, aber dazu später mehr.

Geht man davon aus, dass Nacktheit ein Zustand des Urvertrauens ist, leuchtet es ein, dass die Choreografin eben diese Ungeschütztheit als Ausgangspunkt ihres Werkes wählt. Schon vor dem eigentlichen Beginn der Uraufführung liegen vier Tänzerinnen auf dem Boden, nur mit Slip und hautfarbenen Nylonstrumpfhosen bekleidet, also im theatralischen Sinne nackt. Eine fünfte steht statuenhaft im Hintergrund. Auf dem Boden sind die Kostüme ausgelegt, die die Düsseldorfer Modedesignerin Marion Strehlow kongenial entworfen hat, um den Körpern der Tänzerinnen zu schmeicheln, ihnen ausreichende Bewegungsfreiheit zu ermöglichen und gleichzeitig die Fantasiewelt zwischen Erotik und ihrer Umkehr zu zeigen.

Dass Maura Morales Kraft- oder Energiefelder aufbauen kann, hat sie bereits mehrfach bewiesen. Aber mit Phobos übertrifft sie sich selbst. Hier werden Ängste und Lösungsangebote ausgelobt, ohne sie dingfest machen zu können. Der scheinbar schonungs- und nahezu tabulose Umgang mit den Körpern ihrer Tänzerinnen Anila Mazhari, Latisha Sparks, Elena Valls und Paula Serrano ist von einer Intensität, die mehr als einmal Gänsehaut verursacht. Eine Stunde lang mag man kaum Atem holen. Ob kraftvolle, synchrone Teambewegungen oder eine schon übermäßige Körpernähe mit Händen oder Füßen, die durch Gesichter streifen oder sie gar fest im Griff haben, ob Trennungsschmerz oder jemand, der über „Leichen“ geht: Morales geht über Grenzen und unter die Haut. Wie soll man dieser diffusen Angst auch Herr werden? Solidarisch in der Gruppe funktioniert es doch anscheinend nur temporär, aber in traulichen Beziehungsgeflechten gibt es auch keine dauerhafte Befriedigung. Apropos Sex: Ein Orgasmus scheint bei Morales nicht geeignet, die Spannungen der Angst zu lösen. Schließlich reicht es. Kalin Morrow, der von Beginn an eine Sonderrolle zukommt, erst als Statue im Hintergrund, dann als Sängerin eines Wiegenliedes, bricht ein weiteres Tabu. Sie entpuppt sich als etwas, was es eigentlich nicht gibt. Eine Tänzerin mit einer Sprechrolle. Morales will hier bewusst einen Bruch setzen. Die Körper haben alles gesagt. Jetzt muss die Stimme her. Aber die versagt. Der hervorragend und exzessiv gespielte Monolog versiegt in wahnähnlichen Äußerungen. Dann doch bitte ein Loblied auf die Pussy. Wem auch immer sie gehört. Den Frauen selbst? Doch wohl nur so lange, bis der Choreograf seine Hand darauf legt. Gibt es denn gar keinen Ausweg aus den persönlichen, den gesellschaftlichen Ängsten? Doch, sagt Morales, nachdem die Tänzerinnen sich in Akrobatik und einer extrem extrovertierten Bewegungssprache erschöpft haben. Endlich, nach einer Stunde Atemlosigkeit, bricht eine Tänzerin aus der angstbehafteten Welt unter dem Applaus ihrer Kolleginnen aus und verschwindet im Nichts, um irgendwo nach angstfreien Räumen zu suchen.

Vorerst seine eigene Angst überwunden hat Woirgardt, der musikalisch mit seinem Live-Auftritt nach eigenen Worten an seine Grenzen gegangen ist. Die allerdings sind weit gesteckt. Angefangen vom Klavierspiel, das eine gewisse Bedrohlichkeit vermittelt – und von dem man gern mehr gehört hätte – bis hin zu pulsierenden Rhythmen, die in ihrer Eindrücklichkeit neu und immer wieder von Akzenten wie dem Einsatz eines Geigenbogens auf einer Eisenstange unterbrochen werden, gelingt es dem Komponisten, das Publikum zu fesseln. Dabei schreckt Woirgardt nicht davor zurück, Härte zu zeigen. Und er zeigt noch etwas anderes. Etwas, das er schon in Krefeld gezeigt hat. Entgegen seiner Annahme ist er von seinen Grenzen noch weit entfernt. Mag schon sein, dass dazu noch einige Ängste zu überwinden sind, um im Bild zu bleiben. Aber das Potenzial zeigt er an diesem Abend erneut und überzeugender noch.

Maura Morales hat nichts weiter als ein Meisterwerk vorgelegt. Mit ihrer aufregenden Bewegungssprache hat sie den Menschen an die Seele gefasst. Die Choreografin hat jetzt endgültig ein größeres Publikum verdient. Das bestätigt auch das Publikum des Abends, das nach anhaltendem Applaus mit Bravo-Rufen nicht spart. Und Marion Strehlow ist nicht die einzige, die beschließt: „Ich komme morgen Abend auf jeden Fall noch mal wieder“.

Michael S. Zerban