O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Thomas Aurin

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Zum Schnitzel verkommen

DAS KALKWERK
(Thomas Bernhard)

Besuch am
30. Dezember 2022
(Premiere)

 

Theater an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr

Ein Kind ist immer ein Schauspieldirektor und ich bin schon sehr früh ein Schauspieldirektor gewesen. Zuerst habe ich hundertprozentig eine Tragödie aufgeführt und dann eine Komödie und dann wieder eine Tragödie, dann vermischte sich das Theater, es ist nicht mehr erkennbar, ob es eine Tragödie oder eine Komödie ist. Das verwirrt die Zuschauer.“ Das Zitat wird Thomas Bernhard zugeschrieben. Von ihm stammt auch der Roman Das Kalkwerk, der 1970 erschien.

Ein Erzähler rollt das Leben von Konrad anhand von Zeugenbefragungen auf. Der hat sich mit seiner im Rollstuhl sitzenden Frau 20 Jahre lang in ein stillgelegtes Kalkwerk zurückgezogen, um eine Studie über das Gehör zu verfassen. So sehr die Konrad, wie die Ehefrau, seine Halbschwester, Bernhard nennt, auch von ihm mit „Hörversuchen“ traktiert wird, es gelingt ihm nicht, die Schreibblockade zu überwinden. Stattdessen spitzt sich die Situation immer weiter zu, bis Konrad seine Frau in der Nacht von Heiligabend auf den Ersten Weihnachtstag erschießt.

Foto © Thomas Aurin

Regisseur Philipp Preuss hat aus dem Stoff eine eigene Bühnenfassung entwickelt, die bereits 100 Mal auf der Berliner Schaubühne aufgeführt wurde. Am vorletzten Tag des Jahres wird die Premiere einer überarbeiteten Version im Theater an der Ruhr gezeigt. Preuss hat das Werk minimiert und auf ein Ein-Personen-Stück reduziert. So gewinnt der Abend an Intensität, gleichzeitig werden aber auch Behauptungen von Zeugen zu scheinbaren Wahrheiten Konrads. Überhaupt versucht der Regisseur, jede Distanz zwischen Publikum und Protagonisten zu überwinden. Behilflich ist ihm dabei seine Bühnen- und Kostümbildnerin Ramallah Aubrecht. Sie verkleinert die Bühne auf einen Guckkasten, der mit silberfarbener Folie ausgeschlagen ist und damit auch Projektionen ermöglicht. Ein Stuhl, ein paar Kleidungsstücke und Accessoires reichen, um der Erzählung so etwas wie einen Handlungsrahmen zu verleihen. Warum der Darsteller nun wechselweise in Damen- und Herrenkleidern agieren muss, entzieht sich der Fantasie des Zuschauers, entfernt sich Konrad doch eigentlich zunehmend von seiner Frau. Wie überhaupt Sexuelles hier keine Rolle spielt. Mag man es also als reine Lust am Theaterspiel werten, was Jochen Jahncke meist in helles Licht mit sparsamen Effekten setzt.

Lust an der Übertreibung im Spiel zeigt auch Felix Römer, der den Konrad bereits im Berlin gegeben hat. Expressiv bis an die Grenze des Erträglichen walzt der Schauspieler das Drama vor dem Publikum aus. Das gelingt ihm glaubhaft und vortrefflich. Komisch ist da nichts mehr. Und gruselig wird es gar, wenn Römer in den Projektionen sehr an Jack Nicholson in Shining erinnert. Die unnötigen Sprachübungen mit dem Publikum, die das Stück auch noch auf anderthalb Stunden statt der angekündigten 75 Minuten ausweiten, können der Atmosphäre nichts anhaben. Sehr viel eindrucksvoller allerdings sind die musikalischen Einspielungen von der Festplatte. Mit dem fünften aus den sechs Streichquartetten von Béla Bartók gelingt es wunderbar, dem überdrehten Spiel Pausen zu gönnen und gleichzeitig, die unheilige Stimmung zu schüren.

Wenn es im letzten Teil nach Absurdistan geht, wo sich Römer selbst zum Wiener Schnitzel paniert, während der Kaiserwalzer von Johann Strauß dröhnt, kennt der Schauspieler kein Halten mehr. Da wird mit Mehl gepudert, auf den aufgeschlagenen Eiern herumgerutscht, ehe Konrad sich durch das Paniermehl dreht. Und mit diesem „Wiener Rausch“ geht dann auch das Jahr im Theater an der Ruhr zu Ende. Denn es gibt noch eine Silvesteraufführung, bei der dann auch österreichische „Schmankerln“ zu Sekt und Wiener Liedern gereicht werden. Wer das exorbitante Schauspiel von Felix Römer jenseits der Feiertage genießen will, bekommt dazu noch einmal Ende Januar und Anfang Februar Gelegenheit.

Michael S. Zerban