O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Franziska Götzen

Aktuelle Aufführungen

Erfindung des Fremden

GERMANIA. RÖMISCHER KOMPLEX
(Anagoor)

Besuch am
24. Februar 2023
(Premiere am 5. Februar 2022)

 

Theater an der Ruhr, Mülheim an der Ruhr

Die Germania ist eine Schrift, die der römische Historiker Tacitus etwa 100 Jahre nach Christus verfasst hat. Er beschreibt darin Leben, Charakter, Sitten und Gebräuche der Germanen. Unglücklicherweise hat der Autor nicht erläutert, welche Absicht oder welchen Zweck er mit seinen Ausführungen verfolgte. So sind Interpretation und Rezeption nach Gutdünken Tür und Tor geöffnet. Und davon wurde in der Vergangenheit auch reichlich Gebrauch gemacht. Von der pazifistischen Sicht, Tacitus habe den Römern die Germanen näherbringen wollen, um von weiteren Eroberungsversuchen Abstand zu nehmen, über die Entwicklung einer Germanenideologie, bei der das Traktat als Argumentationsgrundlage diente, bis hin zu einer der Grundlagen für die „Rassenlehre“ des Nationalsozialismus reichen die Versuche, sich Tacitus einzuverleiben. In einer neueren Sichtweise sei in der Schrift gar die Erfindung des Fremden zu sehen, weil hier erstmals zwei Völker einander gegenübergestellt werden.

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Das italienische Theaterensemble Anagoor verknüpft diese Schrift mit der Varus-Schlacht, bei der Rom im Jahre 9 nach Christus drei Legionen samt Hilfstruppen und Tross unter Publius Quinctilius Varus nach Germanien entsandte. In der Varus- oder Hermannsschlacht im Teutoburger Wald erlitten die Römer eine vernichtende Niederlage. Rund ein Achtel des Gesamtheeres des Römischen Reiches ging im Kampf gegen das Germanenheer unter. Anagoor als Gast des Theaters an der Ruhr lässt nun vier Darsteller an die vermeintlichen Kampfplätze zurückkehren, um aus der Germania und Schriften von Durs Grünbein, Antonella Anedda und Frank Bidart über die Germanen zu zitieren. Regisseur Simone Derai sieht in dem Stück Germania. Römischer Komplex, das im Februar vergangenen Jahres in Mülheim an der Ruhr zur Uraufführung kam, eine „poetische Befragung willkürlich gezogener Grenzen und ihrer Überschreitung“. Es sei damit ein Plädoyer für das Eigene im Fremden und das Fremde im Eigenen.

Es ist ein subjektiver Eindruck, der sich auch an diesem knapp anderthalbstündigen Abend einmal mehr bestätigt. Das Theater gibt das Schauspiel an Film und Fernsehen ab und wird zum – bestenfalls inszenierten – „Erzähltheater“. Für die Bühnen scheint das auf den ersten Blick eine vorteilhafte Entwicklung. Es braucht weniger Personal mit geringerer Qualifikation bei zunehmender Komplexität, und neue Medien lassen sich leichter integrieren. Ob das Publikum eine solche Veränderung mitträgt, wird sich mittelfristig zeigen. Alternativ gibt es schließlich viel Handlung in großartigen Aufnahmen auf dem immer größer werdenden heimischen Bildschirm.

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Derai hat sich mit seiner Bühne die Mühe gemacht, die gehaltenen Reden mit Bildern und Geräuschen zu untermalen. Gleich zu Beginn ist die Guckkastenbühne von einem Lichtkasten zum Publikumsraum abgeschlossen, auf dem erst Untertitel zu einem italienischen Text, später ein Video gezeigt wird. Der Lichtkasten wird anschließend hochgezogen und dient dann der Lichtgestaltung von Jochen Jahnke. Das ist durchdacht und wirkungsvoll. Der Boden der Bühne ist zu großen Teilen mit Knochen und Schädeln übersät, allzu plakatives Sinnbild des Schlachtfeldes, auf dem die Redner in wechselnden Positionen ihre Texte absolvieren, die von Musik, Klängen und Geräuschen von Mauro Martinuz teils atmosphärisch unterstützt, teils dank der Lautstärke in der Verständlichkeit behindert werden. Und das, obwohl hier niemand ohne Mikrofon auftritt. Lediglich ein Darsteller tritt mit entblößtem und eingefärbtem Oberkörper auf, die anderen dürfen sich in gegenwärtiger Alltagskleidung auf die wechselnden Redepositionen bewegen.

Handlung hält Derai offenbar also für überbewertet, und so findet sie auch nur im Video statt, in dem die sechs Darsteller bei der Übergabe eines abgeschlagenen Kopfes an den römischen Kaiser beiwohnen dürfen. Später wird es noch ein Video geben, das zeigt, wie unbezwingbar der Teutoburger Wald selbst heute noch für Mensch und Tier ist. Ansonsten gibt es aber auch im Redegewitter durchaus eindrucksvolle Momente. Etwa die italienische Vorrede, die das Fremde des Germanen gleich zu Beginn unterstreicht. Oder wenn Bernhard Glose und Marco Menegotti abwechselnd einen lateinischen Text ins Deutsche übersetzen. Simone Thoma erreicht ihre Wirkung, in dem sie als einziges weibliches Wesen in die Männerrunde einbricht. Einer der Höhepunkte ist aber gewiss der Monolog von Roberto Ciulli, der aus seinem eigenen Leben berichtet, in dem er immer wieder fremd war. Ein durchaus lyrischer Moment, der Assoziationen im Leben des Zuschauers zulässt. Und darin ist womöglich auch der Gewinn des Abends zu sehen. Wer das Fremde identifiziert, in sich, um sich herum, kann es bezwingen. Und das ist der richtige Schritt, um Scham und Angst zu überwinden, die zu Verunsicherung und Aggression führen.

Das Publikum im nicht halbvollen Saal applaudiert brav und verläuft sich anschließend rasch.

Michael S. Zerban