O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der gezeigten Aufführung - Foto © Klaus Handner

Aktuelle Aufführungen

Ganz normale Isolation

WUNSCHKONZERT
(Maura Morales)

Besuch am
5. Juni 2020
(Premiere am 7. März 2014)

 

Ringlokschuppen Ruhr, Mülheim an der Ruhr

Der Ringlokschuppen Ruhr öffnet seine Pforten wieder. Was wie eine sehr gute Nachricht klingt, relativiert sich schnell wieder an der Einlasstür. Das hier wird kein Theaterbesuch, sondern eher die Besichtigung eines Hochsicherheitstraktes. Das Team des Ringlokschuppens hat sich alle nur erdenkliche Mühe gegeben, die „Sicherheitsauflagen“ zu erfüllen. Der Aufwand ist enorm. An der Eingangstür empfängt der Chef selbst. Matthias Frense erläutert den Gästen die Verhaltensmaßregeln, ehe sie in Maske zur Kasse weitergehen. Von dort werden sie zu einem Einzeltisch gebracht, der Wartestation. Dort dürfen sie ihre Maske ablegen, Getränke bestellen, den Meldezettel ausfüllen und darauf warten, dass sie wieder abgeholt werden, um zur Tür zur Studiobühne gebracht zu werden. Von dort werden sie zu ihrem Sitz weitergeleitet, wo sie die Maske wieder abnehmen dürfen. Zwei Plätze links und rechts sowie die Reihe davor und danach bleiben frei. 27 Gäste finden so Platz. Da möchte man glatt noch mal den Klingelbeutel herumgehen lassen, damit überhaupt irgendetwas hängenbleibt. Nach der Aufführung sehen die Ordner zu, dass der Auslass zügig und geordnet vonstattengeht. Heute können sich die Künstler nicht feiern lassen oder mit den Besuchern noch ein wenig schwatzen, darunter mit Sicherheit Freunde, die sie lange nicht gesehen haben. Was klingt wie eine Horrorgeschichte, ist in Wirklichkeit schlimmer. Das künstlich erzeugte Vakuum ruft Unsicherheit und bleierne Schwere bei den Besuchern hervor, die das überspielen, indem sie sich besonders diszipliniert verhalten.

Damit das System überhaupt funktioniert, müssen erst alle Besucher in ihren Wartezonen sitzen. Damit verzögert sich der Beginn der Aufführung um lässige 20 Minuten. Die Besucher nehmen es klaglos hin, schließlich wollen sie etwas ganz Besonderes sehen. Maura Morales‘ erste eigene Arbeit wurde am 17. Mai 2012 im Bonner theaterimballsaal uraufgeführt und war ein Tanzsolo mit dem Titel Wunschkonzert nach einem Text von Franz Xaver Kroetz. Jetzt kehrt sie auf die Studiobühne des Ringlokschuppens zurück, wo sie 2014 zum ersten Mal gezeigt wurde. Im Jahr zuvor war sie mit dem Kurt-Jooss-Preis ausgezeichnet worden. Rückblickend kann man wohl sagen: Es war ein typisches Anfängerstück einer Tänzerin und Choreografin, das zeigte, dass da noch sehr viel Größeres auf das Publikum wartete.

Die Bühne von Claudio Capellini ist so einfach wie raffiniert gebaut. Auf drei weißen Stoffflächen ist ein Appartement aufgezeichnet. Frontal gibt es die Küchenzeile mit den Fenstern zur Außenwelt. Links sind ein Sofa und ein Radio aufgezeichnet, die das Wohnzimmer markieren, vor dem noch ein Hocker steht. Rechts ist eine Bücherwand gemalt, vor der eine Pflanze abgebildet ist. Die Toilette befindet sich auf dem Flur, der im Außenbereich liegt und seine Anbindung durch einen offenen Durchgang findet. Niko Moddenborg begleitet einerseits die Handlung mit verschiedenen Weißschattierungen und gibt andererseits genau so die Tageszeiten vor. Das ist sehr elegant gelöst. Die Kostüme von Thi Nga Nguyen wirken erst etwas spröde, entfalten aber nach und nach ihre Wirkung. Über sportlicher, schwarzer Unterwäsche trägt die Tänzerin zunächst ein einfaches, schwarzes Kleid, das mit weißem Kragen und weißen Manschetten abgesetzt ist. Es deutet auf eine einfache Stellung wie Dienstmädchen, Kellnerin oder Ähnliches hin. Das grüne, halbtransparente Hauskleid, das sie später trägt, unterstreicht die Ungezwungenheit in der Bewegung, die Freiheit in der eigenen Wohnung.

Die Geschichte ist schnell erzählt und deshalb so mitreißend wie genial. Eine Frau unbestimmten Alters betritt ihre Wohnung. Von dieser Sekunde an beginnt die Isolation. Sie ist allein. Das ist erst mal nichts Tragisches. Die üblichen Verrichtungen finden statt. Der Toilettengang, die Reinigung der Küche, das Aufwärmen von Tiefgekühltem im Ofen. Immer wieder mal der Blick aus dem Fenster, die Suche nach dem wirklichen Leben. Das Wunschkonzert beginnt im Radio. Aber es sind nicht die Lieblingsschlager der Hörer, sondern Texte zur Sexualität aus Sicht einer Frau. Und allmählich schlägt die Stimmung um. Erinnerungen kriechen nach oben, diese vollkommen unnutzbare Freiheit der Gegenwart macht nervös und die ungewisse Zukunft, tja. Welche Zukunft? Plötzlich tut sich die ganze Monstrosität der Lebenssituation auf. Da drängt sich unwillkürlich die Erinnerung an die zurückliegenden Wochen des Shutdown auf. Aber das ist eigentlich zu kurz gegriffen. Es ist viel schlimmer. Denn nichts deutet darauf hin, dass die Frau gezwungenermaßen in dieser Situation verharrt. Und damit kommt der Besucher in einer Gesellschaft an, in der die Single-Haushalte Jahr für Jahr zunehmen. Das wirft weitaus mehr Fragen auf.

Und Morales weiß diese Fragen zu beflügeln. Ihre Bewegungssprache ist eine eindrucksvolle Mischung aus Moonwalk, Comic-Figur, Befreiungstanz bis zum Exzess und Sehnsuchtsvermittlung. Da kommt alles vor, was ein Single kennt, der wieder mal einen gottverdammten Sonntagnachmittag allein in seiner Wohnung verbringen muss. Das geht eindeutig unter die Haut. Morales gelingt es auch heute noch mühelos, die Radikalität des Stückes und ihrer damaligen Sprache in die Zuschauerreihen zu schleudern.

Michio Woirgardt hat schon damals die Musik zum Stück geschrieben respektive zusammengestellt. Seine Klangkulisse klingt da noch viel naturalistischer, und auch die typischen Aussetzer, die sich in befremdlicher Stille äußern, gibt es schon. Die Musik funktioniert bis heute, zeigt aber auch sehr deutlich, wie weit sich der Komponist in den vergangenen Jahren entwickelt hat.

Am Ende des 45-minütigen Auftritts gibt es keinen Auf- oder Ausbruch. Vielmehr stopft sich die Frau Rosenblüten in ihren Mund. Ob diese „Süßigkeit“ tatsächlich die Entbehrungen der Isolation ersetzt oder irgendetwas zum Positiven ändert? Maura Morales jedenfalls wirkt nach dieser intensiven Darstellung mehr als erschöpft. Dankbar nimmt sie den Applaus entgegen, der unverhältnismäßig laut und lange anhält und mit Bravo-Rufen durchsetzt wird.

Am Ausgang beschleicht einen das unangenehme Gefühl, dass die Zeit der Entbehrungen gerade erst begonnen hat. Denn auf ein neues „großes“ Werk der Cooperativa Maura Morales werden wir vermutlich noch lange warten müssen. Ein letzter Dank beim Hinausgehen gilt den vielen Helfern des Ringlokschuppens, die diesen Auftritt mit größter Freundlichkeit ermöglicht haben.

Michael S. Zerban