O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Wie ein leichter Sommerduft

PERLEN UKRAINISCHER MUSIK
(Diverse Komponisten)

Besuch am
4. September 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Klangwellen 714 in der Volkshochschule, Monheim am Rhein

Nein, es macht überhaupt keinen Spaß, mit dem Auto nach Monheim am Rhein zu fahren. Das Navigationssystem versagt anhand zahlreicher Straßensperrungen völlig. Wenn man wie durch ein Wunder dann doch vor der Marienkapelle landet, steht man auf einer Baustelle. Trotzdem hat die spätgotische Kapelle zur schmerzhaften Mutter nichts von ihrer Ausstrahlung verloren. Ein schöner Ort für ein Konzert. Leider ist die Tür verschlossen. Immerhin ist Oliver Drechsel, Künstlerischer Leiter von Klangwellen 714, der Konzertreihe der Marienkapelle, telefonisch erreichbar. Und so erfährt man das Unglaubliche. Das Konzert wurde verlegt, weil der Pfarrer es in der Kapelle untersagt hat. Hm, vermutlich baufällig. Nein, wegen Corona. Manchmal ist man einfach sprachlos. Das Staunen nimmt zu, als die Irrfahrt zum neuen Konzertort zu Ende geht. Man lässt die Künstlerin im Saal der Volkshochschule auftreten. „Die Akustik ist gut, und wir haben hier einen generalüberholten Kawaii-Flügel“, erzählt Drechsel. Irgendetwas summt permanent im Raum, von draußen dringen Stimmen durch die geöffneten Fenster. Fehlt eigentlich nur noch, dass eine Lerngruppe in einer Ecke Platz nimmt.

Foto © O-Ton

Violina Petrychenko ist gerade aus der Villa Lug ins Land in Wilhemshaven zurückgekehrt. Bekäme sie einen Lachanfall, wenn sie sich hier ein paar älteren Gästen gegenübersieht, die hinter Schultischen sitzen, dürfte ihr das niemand übelnehmen. Aber Petrychenko ist Profi genug, sich nichts anmerken zu lassen und Haltung zu bewahren. Schließlich hat die Pianistin ein Anliegen, das sie vermutlich davon abhält, noch vor Konzertbeginn wieder abzureisen.

Mit sechs Jahren begann sie ihren Klavierunterricht. Das war in Saporoschje in der Ukraine. Bis zum letzten Jahr dürfte kaum ein Deutscher diese Stadt gekannt haben, jetzt ist sie leider nur allzu bekannt, weil dort der Krieg um ein Atomkraftwerk tobt. Violina Petrychenko studierte am Musikgymnasium der Stadt Musikwissenschaft und Klavier. Später studierte sie in Kiew, Weimar und Köln. Obwohl sich ihre Karriere sehr schnell auf das Klavier kaprizierte, hat sie den Spaß an der Musikwissenschaft nie verloren. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit den Komponisten ihres Heimatlandes, hat in dem Zusammenhang bereits drei Alben veröffentlicht. Seit Beginn des Krieges tourt sie mit dem Programm Perlen der ukrainischen Musik. Die Nachfrage nach ihren Auftritten ist enorm. Nicht auf den großen Konzertpodien, wo man nach ein paar Solidaritätsbekundungen wieder zum Tagesprogramm übergegangen zu sein scheint. Sondern Anfragen kommen von den vielen kleinen Spielstätten, an denen Menschen zusammenkommen, die der Krieg zumindest gedanklich weiter beschäftigt.

Petrychenko hat keine Zeit für Wehklagen, sie will ihren Hörern die Schönheit der Musik aus ihrer Heimat näherbringen. Weil sie weiß, dass sie mit der Musik viel mehr Herzen erreicht als mit Schuldzuweisungen. Sie will aber auch, dass die Menschen wissen, wer für diese Musik verantwortlich ist. Und so stellt sie die Komponisten in kurzweiligen Zwischenmoderationen vor. Den Auftakt macht Mykola Lyssenko. Er studierte in Charkiw, Kiew und vier Jahre in Leipzig Biologie und Musik. Bekannt wurde er neben seiner Arbeit als Komponist, Pianist und Dirigent durch seine Sammlung ukrainischer Volkslieder. Schon als sein Werk Trauriges Lied erklingt, wird die Brillanz von Petrychenkos Klavierspiel auch auf dem eher durchschnittlichen Flügel hörbar. Wie intensiv sie sich mit dem Programm auseinandergesetzt hat, wird auch darin deutlich, dass sie es fast vollständig aus dem Gedächtnis spielt. Auch das zweite Werk, eine Rhapsodie über ukrainische Themen mit dem Titel Dumka-Schumka wird später nur so aus der Klaviatur perlen. Während die Pianistin in lupenreiner Interpretation eine Fantasie über drei ukrainische Volkslieder von Alois Jedlischka vorträgt, steigt Ärger auf. Ärger über die Borniertheit und Engstirnigkeit des deutschen Konzertkanons. Wunderbare Musik, die dem deutschen Konzertbesucher einfach vorenthalten wird.

Foto © O-Ton

Über ihre Liebe zur romantischen Musik macht Petrychenko auch bei den folgenden Komponisten keinen Hehl. Wiktor Kosenko gilt als Missionar der klassischen Musik. Er zog durch die kleinen Städte, um den Menschen dort die Musik näherzubringen. Aus seinen 250 Kompositionen stellt die Pianistin drei Mazurkas und eine Gavotte vor. Musik, die wie von leichter Hand komponiert klingt und deshalb gern schon mal unterschätzt wird. Die beiden folgenden Präludien stammen von Wasyl Barwinskyj – freundliche Musik mit einem leichten Hang zum Drama. Der stammte aus Lemberg und war einer der ersten ukrainischen Komponisten, die weltweite Beachtung fanden. Sein Kollege Lewko Rewutzkyj komponierte nur fünf Jahre lang, erzählt Petrychenko und trägt das Lied op. 17 vor, bei dem man unwillkürlich an die Barmusik in einem frühen Hollywood-Film denkt.

Valentin Silvestrov stammt aus Kiew und lebt heute in Berlin. Ein offenbar respekteinflößender Komponist, denn jetzt greift auch Petrychenko zur Partitur, während sie erzählt, dass sie froh sei, dass Silvestrov nicht zugegen ist. Wird von ihm doch kolportiert, dass er während des Konzerts auch schon mal auf die Bühne springe, um dem Pianisten zu zeigen, wie seine Stücke richtig gespielt werden. Petrychenko nennt ihn „Meister der Stille“, schreibt er doch gern kleine, aber gehaltvolle Stücke. Und die Gäste im Saal dürfen sich entspannt zurücklehnen, klingen die fünf Stücke, die jetzt zum Vortrag kommen, zumindest in ihren Ohren doch vollkommen fehlerfrei und überzeugend. Mit einem zeitgenössischen Lied aus der ukrainischen Suite von Ihor Schamo, nun deutlich dissonanter, aber auch expressiver, schließt Violina Petrychenko ihren anderthalbstündigen Vortrag.

Das Publikum zeigt sich tief beeindruckt vom Vortrag, der wie leichter Sommerduft den Raum durchzieht, und applaudiert nach Kräften. Wer sich das grandiose wie kurzweilige Konzert anhören möchte, hat dazu am kommenden Mittwoch im Historischen Gemeindesaal in Bad Godesberg Gelegenheit.

Michael S. Zerban