Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
DER PROCESS
(Franz Kafka)
Besuch am
14. November 2021
(Premiere am 9. September 2020)
Wenn eine Regierung erst einmal damit beginnt, die Regeln des Rechtsstaats zu missachten, aus welchen Gründen auch immer, wird es gefährlich. Weil sie keiner öffentlichen Logik mehr folgt, werden ihre Beschlüsse undurchsichtig. Das schürt Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung, aber auch bei vielen das Gefühl, sich nun auch nicht mehr an Regeln halten zu müssen. Die beiden vergangenen Jahre sind ein Paradebeispiel dafür. Vor diesem Hintergrund scheint ein Romanfragment, das zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts entstand, besondere Aktualität zu erhalten. Grund genug für Ulrich Greb, Intendant am Schlosstheater Moers und Regisseur, sich mit dem Process von Franz Kafka auseinanderzusetzen. Er erstellt eine eigene Textfassung für die Bühne, die das Geschehen im Roman erklärt, ohne dabei auf theatrale Verfremdung zu verzichten.
Joseph K. ist Prokurist in einer Bank. Am Morgen seines 30. Geburtstags erscheinen zwei Männer, um ihn in Arrest zu nehmen. Gegen ihn werde ein Prozess eröffnet. K. erfährt weder den Gegenstand noch die Rechtsgrundlage des Prozesses. Aber immerhin darf er weiterarbeiten. Je mehr der leitende Bankangestellte versucht, sich vor einer Verurteilung zu schützen, indem er das System durchdringen will, desto komplexer und undurchsichtiger wird es. Dafür sorgen vor allem zahlreiche Erklärungsversuche. Da erscheint es unausweichlich, dass der Prozess mit dem Tod des Mannes endet. „‘Wie ein Hund!‘ sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben“. So lautet der letzte Satz in Kafkas Roman, und Greb verwendet da Bild vom Hund als durchlaufendes Motiv. Erschwert wird das Verständnis des Geschehens, weil Greb eine Rolle mehreren Personen in wechselnden Zuständigkeiten zuweist. Das allerdings ist dramaturgisch ausgesprochen gut gelungen, so dass der Zuschauer sich gern darauf einlassen darf und bald schon ein Rätsel im Rätselhaften findet, wenn er herauszufinden hat, wer gerade wer ist.
Im September vergangenen Jahres fand die Premiere im Wallzentrum statt, dem „Dienstleistungs- und Einzelhandelszentrum im Herzen von Moers“. Nach nur zwei Aufführungen war dort allerdings Schluss. Zur Wiederaufnahme vor einer Woche zog das Stück in eine neue Spielstätte ein. Das SeeWerk – Forum für zeitgenössische Kunst ist eine ehemalige Brennerei, die etwa zwei Kilometer vor dem Stadtteil Kapellen auf dem platten Land angesiedelt ist. Auf einem etwa anderthalb Hektar großen Gelände mit Park und altem Baumbestand, das an einen idyllischen See grenzt, ist ein architektonischer Stil-Mix entstanden, der heute vor allem für die bildende Kunst genutzt wird. Frank Merks und Anatol Herzfeld haben hier unter anderem ihre Ateliers. Der kleine Park ist vollgestellt mit Kunst. Das sieht selbst im November noch großartig aus. Und in der Dämmerung kann man sich leicht vorstellen, wie hier dereinst ein eigenes kleines Universum entstand, um Schnaps zu brennen. In der Gebäudegruppe links des Eingangs gibt es einen Schankraum, in dem Karten ausgegeben und Getränke verkauft werden. Gleich gegenüber ist im ehemaligen Mitarbeiterhaus eine Halle integriert, in der die Aufführung stattfinden wird. Schon vorab kann man durch die Fenster erkennen, dass Birgit Angele hier eine durchaus ungewöhnliche Bühne geschaffen hat. Deren tatsächliche Vorzüge werden sich allerdings erst später erschließen.
Foto © Jakob Studnar
Vorerst muss man sich hier mit der „Besucherbehandlung“ auseinandersetzen. Dankbar darf man ja heute schon sein, wenn die Kontrolleure wissen, dass eine dunkelblaue Umrandung in der App eine vollständige Impfung bedeutet, und nicht auch noch auf dem Besucher-Handy rumtippen, weil sie dann auch noch das Datum des Impfschutzbeginns schwarz auf weiß lesen können. Und an diesem Abend glauben selbst die Verantwortlichen nicht, dass sich jemand mit einer gefälschten Impf-App auf den Weg macht, um in das Seewerk einzudringen. Das erspart die Ausweiskontrolle, die deshalb besonders ärgerlich ist, weil sie Bürger unter Generalverdacht stellt. Bei der Einlasskontrolle werden die „G-Kärtchen“ wieder eingesammelt, mit denen sichergestellt wird, dass sich tatsächlich keine Ungeimpften auf den zehn Metern zwischen Kartenausgabe und Einlass in einer gottverlassenen Gegend einschleichen. „Hach, wo ist es denn? Ich hatte es extra hier in die Tasche gesteckt!“ Die Zeit hätte man gut nutzen können, um den verspäteten Beginn von immerhin zehn Minuten wenigstens einigermaßen wieder einzufangen. Für die vielleicht 50 Besucher sind für eine fast zweistündige Aufführung Bierbänke aufgestellt. Ein Verwöhnprogramm sieht anders aus.
Die Besucher sind rund um das Spielfeld gesetzt. Aus der entferntesten Ecke scheint sich eine Flut von weißem Papier zu den Zuschauern hin zu ergießen, aber rechtzeitig zum Stillstand gekommen zu sein. Ein per se eindrucksvolles Bild, das Angele geschaffen hat. Während aus dem Lautsprecher, der hinter den Notwendigkeiten zurückbleibt, erste Musik erklingt, geht ein Raunen durch das Publikum. Die Papierfetzen bewegen sich. Darunter versteckt Patrick Dollas, Matthias Heße, Emily Klinge, Roman Mucha und Elisa Reining, die den Abend mit Höchstleistung und exzellent bestreiten werden. Zunächst hat Angele sie in Papieranzüge gesteckt, unter denen später höchst fantasievolle Kostüme zum Vorschein kommen werden. Heße, der vermutlich auch keine Probleme damit hätte, sich zum FKK an die Düsseldorfer Kö zu begeben, wird sein Kostüm bis auf eine stilisierte Windel verlieren, die mittels Hosenträgern am üppigen Körper gehalten wird. Warum er das kann? Weil er ein richtig guter Schauspieler ist, der neben seinem Körper Textsicherheit, Charisma und Überzeugungskraft mitbringt. Wie schön, dass es solche Typen noch gibt. Darin stehen ihm die Kollegen nicht viel nach. Und so ist das Publikum, kaum hat die Aufführung begonnen, schnell gefangen und lässt sich bereitwillig auf die Dialoge ein. Und ja, Greb bietet hier modernstes Theater. Indem er die Geschlechterrollen aufhebt, Heße mal zur kessen Leni wird oder Klinge zu Joseph K., ohne großes Aufheben davon zu machen, bietet der Regisseur Diversität vom Feinsten. Hier gibt es keine „Opferrollen“, sondern Selbstverständlichkeiten. So soll Diversität sein.
Dass Greb auch gleich noch Puppenspiel integriert, gelingt so gut, dass die Zuschauer als Selbstverständlichkeit nehmen, eine Choreografie des Puppenspielers Joost van den Branden zu erleben. Wenn die Darsteller hier mit wenigen Stöcken und ein paar Papierbahnen Personen erschaffen, fügt sich das selbstverständlich in das Geschehen ein und trägt zur Dramaturgie bei. Herrlich, wie aus dem Papierwust die Requisiten herausgezogen werden, Personen unter der Oberfläche verschwinden und unvermittelt wieder auftauchen.
Am Ende des Abends ist der Zuschauer fest davon überzeugt, den Process endlich verstanden, einen großartigen Theaterabend erlebt und die besten Schauspieler mindestens Deutschlands kennengelernt zu haben. Da ist die gute Nachricht, dass es noch weitere Aufführungen gibt.
Michael S. Zerban