O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Stutte

Aktuelle Aufführungen

Romantik, knapp am Schauer vorbei

DIE NACHTWANDLERIN
(Vincenzo Bellini)

Besuch am
21. Mai 2023
(Premiere)

 

Theater Krefeld Mönchengladbach, Theater Rheydt

Was macht einen guten Regisseur aus? Darüber gehen die Meinungen sicher auseinander, aber auf der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner kann man vielleicht festhalten: Er muss eine Geschichte einfach und spannend erzählen. Wie man das macht, will Ansgar Weigner mit seiner neuen Inszenierung einer sehr alten Geschichte beweisen. Vom Theater Krefeld Mönchengladbach bekommt er La sonnambula anvertraut.

Das Phänomen des Nacht- oder treffender Schlafwandelns war in der Literatur nicht neu, als Felice Romani den Stoff in seinem Libretto für Vincenzo Bellinis siebente Oper La sonnambula, die Nachtwandlerin, aufgriff. Am 6. März 1831 wurde die Oper in Mailand uraufgeführt und zählt bis heute neben Norma zu den Meisterwerken des Komponisten. Weniger ausgereift als die Musik ist allerdings die Geschichte. In einem abgelegenen Alpendorf soll die Müllerstochter Amina den reichsten Mann der Gemeinde, Elvino, heiraten. Unmittelbar vor der Hochzeit taucht ein Fremder auf, der sich als Sohn des vor vier Jahren verstorbenen Grafen entpuppt. Er kommt in der Herberge von Lisa unter, die des Abends sein Zimmer aufsucht, um sich persönlich nach seinem Wohlbefinden zu erkundigen. Kurz darauf erscheint Amina schlafwandelnd in dem Raum und legt sich dort schlafen. Sie wird entdeckt, eine Affäre mit dem Grafen wird ihr unterstellt, die Hochzeit platzt, Lisa macht sich erneut Hoffnungen auf Elvino, der begeistert zustimmt. Als der Graf, der am nächsten Morgen zum Schloss aufgebrochen ist, davon erfährt, kehrt er ins Dorf zurück, um das Missverständnis aufzuklären und die Heirat von Amina und Elvino zu retten. Im Folgenden erlebt die Dorfgemeinschaft die schlafwandelnde Amina selbst, sie ist von jedem Verdacht befreit. Das Ende könnte eine rauschende Hochzeitsfeier werden.

Foto © Matthias Stutte

In einem Beitrag zum außergewöhnlich informativen Programmheft zeigt Weigner die Schwachstellen der Geschichte und die daraus resultierenden Fragen für das Regie-Team auf. Das Glück will es, dass die meisten dieser Fragen auf der Probenbühne geblieben sind, und der Regisseur seine Interpretation sehr geradeaus und verständlich erzählt. Schon die Idee, das Gemälde Frau am Fenster von Caspar David Friedrich, das knapp zehn Jahre vor der Oper entstand, in den Abend einzubauen, ist diskussionswürdig, weil man sie eigentlich ohne Lektüre des Programmhefts nicht verstehen kann. Es ist einer der „gefürchteten Regie-Einfälle“, der hier niemandem schadet. Auch die Idee, den Chor als „Revolutionschor“ mit emporgereckten Fäusten zu zeigen, ruft im Zusammenhang mit dem Gesang eher Zweifel als Begeisterung hervor. Da sind seine frühzeitigen Hinweise auf das Tuch, das im Weiteren eine größere Rolle spielen wird, geradezu Gold wert. Weiterhin versucht Hermann Feuchter, mit seinem Bühnenbau für Verwirrung zu sorgen. Während der Berghof als erster Spielort noch aus Verschiebeelementen zusammengesetzt ist, die die ärmliche oder besser karge Atmosphäre gekonnt widerspiegeln, werden sie in der Folge immer wieder in neuen Konstellationen zusammengestellt, die man spätestens mit den Überresten des Schlafzimmers nicht mehr erkennen kann. Da stehen einfach riesige Möbel auf der Bühne, die immerhin niemanden stören und die Akustik nicht beeinträchtigen.

Ein besonderer Blick gilt den Kostümen von Susanne Hubrich. Da sind Chor und Nebenrollen in wirklichkeitsnahe Kleider gekleidet, wie man sie sich in einem Bergdorf des 19. Jahrhunderts vorstellt. Ein prachtvoller Anblick für alle, die keine grauen Anzüge mehr sehen wollen. Elvino wird mit seinen Schaftstiefeln, in denen die Hosen stecken, als Gutsbesitzer charakterisiert. Amina wird als anmutig und entzückend beschrieben, was angesichts ihres Kleides eher schwer verständlich ist. Ihr Kostüm erklärt sich im Laufe der Handlung, so dass man es am Ende des Abends als raffiniert bezeichnen kann. Gewünscht ist der scharfe Kontrast des Menschen einer gehobenen Schicht aus der Großstadt, den der Graf verkörpert. Hubrich wählt hier einen leicht verknitterten, weißen Leinenanzug.

Foto © Matthias Stutte

Bellini verlangt hohe Kunstfertigkeit von seinen Sängern. Und da ist das Ensemble im Rheydter Theater sehr gut aufgestellt. Angefangen mit Sophie Witte, die eine grandiose Amina singt. Darstellerisch verlangt Weigner nicht allzu viel von seinen Solisten. Da kann nicht nur Witte glänzen. Auch Janet Bartolova gefällt als ihre Mutter. Matthias Wippich als Graf Rodolfo beeindruckt insbesondere mit seinem souveränen Auftritt. Vor allem im zweiten Akt gefällt sein sonorer Bass. Als Elvino, der hochgradig verliebt der Hochzeit entgegenfiebert, irritiert Woongyi Lee zunächst, wenn er – von den Frauen abgewendet – stets zur Rampe singt. Erst im Verlaufe des Abends wird deutlich, dass es hier nicht um die Akustik oder den mangelnden Einfallsreichtum des Regisseurs geht, sondern die nicht vorhandene Empathie des Gutsbesitzers der Grund der fehlenden Zuwendung ist. Ebenfalls wenig Nähe ist bei Wirtin Lisa zu erwarten. Indre Pelakauskaite aus dem Opernstudio spielt die Ungeliebte absolut überzeugend und gefällt im geforderten Gesang. In den kleineren Rollen des Bauern Alessio und des Notars sind Miha Brkinjač und Jakob Kleinschrot zu erleben, beide ebenfalls aus dem Opernstudio Niederrhein.

Eine herausragende Rolle nimmt der Opernchor des Theaters Krefeld Mönchengladbach unter Leitung von Michael Preiser ein. Weigner fordert ihn darstellerisch, und der Chor reagiert ausgesprochen spielfreudig. Gesanglich gibt es ein paar Ungenauigkeiten, die aber wohl am ehesten darauf zurückzuführen sind, dass der Blick auf den Dirigenten respektive auf die Monitore verwehrt bleibt. Das wird sich in Folgeaufführungen leicht korrigieren lassen.

An Mihkel Kütson liegt es sicher nicht. Der Generalmusikdirektor, der es sich nicht nehmen lässt, die erste Aufführung der Sonnambula am Theater Krefeld Mönchengladbach selbst zu dirigieren, arbeitet sich ordentlich daran ab, die Balance zwischen den Niederrheinischen Sinfonikern, Sängern und dem Chor zu halten. Das gelingt ihm klaglos. Zum typisch italienischen Klangbild fehlt bei der Premiere noch der letzte Schliff.

Das hindert das Publikum kaum, seiner Begeisterung freien Lauf zu lassen. Zwar bleiben an diesem Abend viele, zu viele Plätze im Saal unbesetzt, aber das wird vom Applaus der Anwesenden überschwänglich ausgeglichen. Insbesondere Sophie Witte, deren Anima sich am Ende anders entscheidet, als Romani und Bellini es ursprünglich vorsahen, darf sich feiern lassen. Eine insgesamt überaus gelungene Inszenierung mit Darstellern, die keine größere Bühne zu scheuen brauchen, geht nach zweieinhalb Stunden so zu Ende, wie ein Intendant sich das wünscht: Die Besucher des heutigen Abends werden noch lange von diesem Ereignis schwärmen.

Michael S. Zerban