O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Teufel ohne Chance

ORDO VIRTUTUM
(Hildegard von Bingen)

Besuch am
27. August 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Pfarrkirche St. Helena, Mönchengladbach-Rheindahlen

Ordo virtutum – Die Ordnung der Kräfte: So heißt ein geistliches Musikdrama, das Hildegard von Bingen um 1151 während der Verlegung ihres Klosters in die neuen Gebäude auf dem Rupertsberg schuf. Es handelt sich dabei wohl um das erste schriftlich überlieferte Mysterienspiel Europas. Darin folgt Hildegard ihrer Überzeugung, dass die Himmelskräfte der menschlichen Seele helfen, sie umwerben und zur Zusammenarbeit mit Gott bewegen wollen. Maria Jonas hat mit ihrem Ensemble Ars Choralis Coeln daraus eine szenische Aufführung erarbeitet.

Reinhold Richter ist Kantor der St.-Helena-Kirchengemeinde im Mönchengladbacher Vorort Rheindahlen. Neben seinen Dienstpflichten ist es ihm Herzensangelegenheit, den Kirchenraum für ausgefallene Konzerterlebnisse zu nutzen. Als er von dem Stück Ordo virtutum erfuhr, lud er Jonas und ihre Frauenschola, wie sich das Ensemble selbst nennt, ein, es in der Kirche St. Helena aufzuführen. Bei der Inaugenscheinnahme der Kirche war Jonas vollständig begeistert. Wenn die zehn Frauen sich hier nicht wunderbar einrichten und wohlfühlen könnten, müsste es wohl mit dem … ach, nein, der kommt erst später in die Kirche.

An diesem Samstagabend würde wohl so mancher Pfarrer vor Neid erblassen, wenn er die gefüllten Kirchenbänke erblickt. Längst hat sich Richter hier eine treue Fan-Gemeinde aufgebaut. Der Altarraum ist geräumt, davor ein künstlerisch gestaltetes Podium aus edel wirkendem Holz aufgebaut. Wie sich zeigen wird, ist das edle Stück ein Luxusgegenstand, der nicht annähernd so genutzt wird, wie man es von seiner Wertigkeit erwarten dürfte. Das Stück beginnt am Eingang, wo sich die Himmelskräfte kreisförmig um die Amor celestis, die himmlische Liebe versammeln. Susanne Ansorg verkörpert die Figur mit ihrer Fidel, später wird sie auch das Glockenspiel auf dem Podium bedienen. Als erstes löst sich Maria Jonas als Menschlichkeit aus dem Kreis, um zum Podium zu schreiten. Die anderen Kräfte folgen ihr nach und nach, um auf den Stufen des Podiums in Empfang genommen zu werden. Eine feste Gemeinschaft entsteht. Nur die menschliche Seele, intensiv gespielt von Cora Schmeiser, sträubt sich, sich von den Kräften – oder Tugenden – vereinnahmen zu lassen und gerät so in die Fänge des Teufels, der wunderbar tänzerisch von der Flötenspielerin Lucia Mense gespielt wird.

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In der Folge treten Amanda Simmons als Liebe, Uta Kirsten als Keuschheit, Petra Koerdt als Weltverachtung, Pamela Petsch als Sieg, Stefanie Brijoux als Unterscheidungskraft und Sylvia Dörnemann als Geduld auf, um die menschliche Seele in ihre Reihen zu ziehen. Die hegt Zweifel, gerät derweil in einen Kampf mit dem Teufel, ehe sie sich schließlich den Kräften des Himmels anschließt. Darstellerisch hätte man sich von den Damen des Himmels sicher mehr Bewegung erhofft, als im Fall ihrer Soli aus dem Reigen herauszutreten, während Mense und Schmeiser durch den Kirchenraum tollen, um sich gegenseitig zu befehden.

Gesanglich gestaltet sich der Abend höchst eindrucksvoll, auch wenn die Textverständlichkeit gegen null geht. Das aber ist bei einem lateinischen Text wohl auch eher sekundär. Wichtiger ist die Wirkung, die die Stimmen erzielen. Mit ihrem hohen Gesang versetzen die Himmelskräfte die Zuschauer alsbald in eine entrückte Stimmung, die einer „himmlischen Dimension“ sehr nahekommen. Nur unter Qualen der Selbstopferung schafft es die menschliche Seele, sich in den Reigen der Himmelskräfte einzufügen, während die Damen in ihren mittelalterlich wirkenden Kleidern von Glück beseelt sind, wenn es ihnen endlich zu gelingen scheint, den Teufel zu unterjochen. Während sich die Virtuten in eine „höhere Sphäre“, sprich, den Altarraum zurückziehen, bleibt allerdings der Teufel zurück. Endgültig gebändigt wird er nicht.

Wenn die Stimmen in ätherische Höhen entschweben, stellt sich beim Hörer die wundersame Entspannung ein, die einem meditativen Zustand gleich. Nach anderthalb Stunden ist es dann allerdings auch genug. Die Besucher bedanken sich artig mit fleißigem Applaus. Jonas und ihrem Ensemble ist eine wunderbare Aufführung gelungen, die dem Ruf der Kirche als großartiger Konzertort nur nutzen kann. Und die Reise ins Mittelalter passt wie angegossen in das Umfeld der Kirche. Das Herz ist friedvoll und weit, wenn es an die Heimreise geht.

Michael S. Zerban