O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Julian Scherer

Aktuelle Aufführungen

Größer als gedacht

KÜTSONS HAPPY HOUR
(Diverse Komponisten)

Besuch am
19. Januar 2022
(Premiere am 18. Januar 2022)

 

Theater Krefeld Mönchengladbach, Theater Rheydt, Konzertsaal

Vom ersten Tag an erntete die alte Website viel Kritik und Ärger. Trotzdem dauerte es mehrere Jahre, bis das Theater Krefeld Mönchengladbach jetzt endlich einen neuen Internetauftritt aufgeschaltet hat. Umso größer ist die Freude, dass die nach erstem Überfliegen deutlich besser funktioniert. Und plötzlich entdeckt man Programmpunkte, die vorher nur von Spezialisten zu finden waren. Wie beispielsweise Kütsons Happy Hour. Bereits in der vergangenen Spielzeit hat Mihkel Kütson das neue Format eingeführt. Das war so erfolgreich, dass in dieser Saison Doppelveranstaltungen angeboten werden. Dank der guten Terminübersicht auf der Website kann man so heute noch eben das dritte und letzte Konzert erwischen.

Kütsons Happy Hour. Da stellt sich vor dem geistigen Auge so ein Bild von Menschen in Clubsesseln mit Cocktails in der Hand ein, die dem Mann am Flügel lauschen, der zwischen seinen Vorträgen über nette Anekdoten plaudert. Aber ein Theater ist schließlich keine Hotelbar. Tatsächlich findet das Konzert im Konzertsaal des Theaters Rheydt statt, auch wenn der eigens zu diesem Zweck komplett umgestaltet wird. Der Dirigent ist kein Alleinunterhalter, sondern hat gleich sein Orchester, den Opernchor und Solisten mitgebracht. Während die Instrumentalisten sich unter der Empore versammeln, stellt sich der Chor auf der Empore auf. Der Zuschauerraum ist geräumt und in zwei Ebenen aufgeteilt. Auf denen sind Tischchen mit jeweils zwei Stühlen aufgebaut. Vor dem offiziellen Beginn eilen Kellnerinnen durch den Saal, um die Besucher mit Getränken zu versorgen. Auf Nachfrage bekommt man auch Wein oder Apfelschorle, ansonsten wird großzügig Weiß- und Rotwein verteilt. Eine schöne Atmosphäre, die auf 100 Personen begrenzt ist. Auf den Tischen liegen Abendzettel mit einem Programm, das einem Neujahrskonzert zur Ehre gereicht. Damit ist auch weitgehend Schluss, was es zum Stichwort neues Format zu sagen gibt. Die Musiker erscheinen in schwarzer Berufskleidung, Kütson verzichtet auf den Frack, nicht aber auf Fliege, schwarzes Samtjackett und Lackschuhe.

Mihkel Kütson – Foto © Julian Scherer

Zu Beginn des Abends führt der Gastgeber das Publikum in das London des Jahres 1791. Am 11. März fand in den Hannover Square Rooms die Uraufführung der Sinfonie Nr. 96 in D-Dur von Joseph Haydn statt. Betont forsch-fröhlich bringt das Orchester unter lebhafter Gestik des Dirigenten die drei Sätze Menuett, Allegro und Finale. Vivace assai zur Aufführung. Der Chor schließt sich mit einem stimmgewaltigen Stimmt an die Saiten aus Haydns Schöpfung an. Hier allerdings hätte ein Putzfrauen-Test in der Probe geholfen. Eine beliebte Testmethode, die man zumindest früher in Werbeagenturen durchgeführt hat. Da wurde eine völlig unbeteiligte Person, nämlich die Putzfrau, vor den neuen Werbespot oder die Anzeige gesetzt und nach der Wirkung befragt. Hätte man eine solche Person bei der Probe in den Saal gesetzt, hätte die sofort darauf hingewiesen, dass der Chor wunderbar „braust“, aber vom Text nichts zu verstehen ist. Das hat Maria Benyumova bei der Einstudierung offenbar versäumt, und so geht das Textverständnis gegen Null. Das wird sich auch bei den nächsten Einsätzen – bis auf das Halleluja – nicht ändern.

Klar und deutlich zu verstehen ist Kütson, der die Moderation des Abends selbst übernimmt. Die Informationen, die er vermittelt, bieten wirklich wenig Neuigkeiten, sind aber mit größtmöglichem Charme vorgetragen, so dass die Gäste viel Spaß an den Zwischentexten haben. Nachdem er erläutert hat, wie die Symphonie Haydns zu ihrem Beinamen Das Wunder kam, kündigt er den ersten Satz des Cello-Konzertes Nr. 2 von Nino Rota an. Dem Mann, der sich selbst immer als „klassischen Komponisten“ sah, seinen Weltruhm aber mit Filmmusik begründete. Eine wunderbare Idee übrigens, die Solisten aus den eigenen Reihen zu besetzen. So stärkt man die Bindung des Publikums zum Orchester. In diesem Fall wird als Cellist Raffaele Franchini angekündigt. Und es nimmt seltsam Wunder, dass der Mann so ganz ohne Cello die Bühne betritt. Nichtsdestotrotz wird er mit herzlichem Applaus vom Publikum empfangen. Nicht Franchini, sondern der Orchesterwart darf sich im Auftrittsapplaus sonnen, weil er das Sitzpodest des Solisten erst noch in Stellung bringen muss. Das Publikum hat den nötigen Humor, über sich selbst herzhaft zu lachen, als Kütson den Irrtum berichtigt. Und alsbald darf Franchini mit dem Orchester zeigen, dass auch das Cello-Konzert ohne Schwierigkeit als Filmmusik durchgehen könnte. Ein schöner Kontrast zum vorangegangenen Chorauftritt.

Raffaele Franchini – Foto © Julian Scherer

Abwechslungsreich geht es weiter. Der Schwede Lars-Erik Larsson schrieb eine Schauspielmusik zu William Shakespeares Wintermärchen. Daraus erklingt die Siciliana in herzerwärmender Interpretation. Das Orchester zaubert die sizilianische Winterlandschaft ganz ohne szenische Zutaten so lebhaft in den Saal, dass Disney die Musik ohne jede Kürzung für einen Zeichentrickfilm übernehmen könnte. Das Publikum schmilzt dahin. Ehe die große Begeisterung abflauen kann, hat Kütson schon die nächste Überraschung parat. Allmählich gerät der Abend zur Leistungsschau des Theaters. Denn für das Terzett In holder Anmut stehn aus Haydns Schöpfung stehen Sopranistin Chelsea Kolic, der Tenor aus dem Opernstudio Niederrhein, Robin Grunwald, und der Bass Gereon Grundmann in der Front der Empore. Nach einem weiteren Choreinsatz geht es noch einmal zurück zu Larsson. Jetzt kommt die große Stunde der Streicher, die die Romanze aus der Pastoralsuite op. 19 zelebrieren. „Es muss nicht immer Grieg sein, Larsson tut’s auch“, ruft Kütson lachend in den überschäumenden Applaus. Endlich darf der Chor sein Halleluja aus Vollendet ist das große Werk der Schöpfung schmettern. Für die Zugabe gibt es dann echte Filmmusik, zu der Franchini noch einmal auftritt. Aus Lady Caliph spielen die Niederrheinischen Sinfoniker das Dinner und die Nocturne von Ennio Morricone.

Ein alles in allem gelungener Abend, der mit einer Stunde genau die richtige Länge hat, wenn man durch die Maske atmen muss. Das Publikum ist hin und weg. Und zeigt den Entscheidern im Theater den Weg. Hier ist noch mehr möglich, zum Beispiel in Form auch moderner Musik. Eine Fortsetzung, wenn nicht gar Erweiterung, scheint unumgänglich. Ob man die Anfangszeit in der Woche dann allerdings bei 18.30 Uhr belässt, ist diskussionswürdig. Denn wer über die Autobahn anreist, steht zu dieser Zeit zuverlässig im Stau. Dass man von der Autobahn und zurück acht Radarfallen passieren muss, können weder Theater noch die Niederrheinischen Sinfoniker ändern. Aber es wirft ein Bild auf eine Stadt, die nicht mehr für Verkehrssicherheit sorgt, sondern ihre Bürger gängelt. Da könnte Kütson glatt darüber nachdenken, ob er nicht lieber für eine fröhliche Stunde in Krefeld sorgt.

Michael S. Zerban