O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Giulio Coscia

Aktuelle Aufführungen

Attacke

DAVID FRAY
(Franz Schubert, Franz Liszt)

Besuch am
22. März 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Kaiser-Friedrich-Halle, Mönchengladbach

Während in Wermelskirchen während der größten Bildungskrise, die das Land je erlebt hat, kleingeistige Lehrer Schüler vom Unterricht ausschließen, weil sie etwas tragen, von dem die Lehrkräfte glauben, dass es sich um „Jogginghosen“ handeln könne, geht es im Konzertbetrieb entschieden entspannter zu. So zum Beispiel in der Kaiser-Friedrich-Halle in Mönchengladbach, in die der Initiativkreis Mönchengladbach heute Abend zu einem Klavierkonzert eingeladen hat. Da treten junge Männer in T-Shirt, Jeans und Turnschuhen auf, Männer, die sich im „Baumfäller“-Flanellhemd wohlfühlen, Menschen, die mit Designer-Brillen im Business-Look demonstrieren, dass sie es gerade noch so von der Arbeit hierhergeschafft haben oder auch alte Männer im grauen Anzug, die dem Roman Momo entsprungen sein könnten. Um das Aussehen schert sich hier niemand, schließlich ist man nicht zu einer Modenschau gekommen, sondern um Musik vom Feinsten zu hören. Und was die Schüler im Rheinisch-Bergischen Kreis gerade vom Grundgesetz nicht lernen, wo etwas über die freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit steht, wird in Mönchengladbach glücklicherweise praktiziert. Doch genug davon.

Im Foyer der Kaiser-Friedrich-Halle lässt man es sich im emsigen Treiben gutgehen. Schon vor der Aufführung werden wie in der Pause Getränke und Naschereien gereicht. Im Saal wird kurz darauf kaum ein Platz frei bleiben. Denn angekündigt ist David Fray, bekannter Pianist aus Frankreich, mit einem deutschen Programm. 1981 als Sohn einer Deutschlehrerin und eines Philosophen in Frankreich geboren, begann er im Alter von – na? – vier Jahren mit dem Klavierspiel, studierte am Conservatoire National Superieur in Paris. 2006 kam der Durchbruch, als er für Hélène Grimaud in Paris und Brüssel einspringen durfte. Heute gilt er als großer Bach-Interpret. Eine seiner großen Vorlieben gilt den Komponisten deutsch-österreichisch-ungarischer Tradition. Und so stehen heute Abend Franz Schubert und Franz Liszt auf dem Programm.

Schon beim ersten Blick auf die Bühne fällt auf, dass vor dem Konzertflügel ein Orchesterstuhl statt einer Bank steht. Nun ist es kaum ungewöhnlich, dass sich ein Solist mit den Jahren Attitüden angewöhnt, noch ist es verwerflich. Nebenbei: Fray tritt im Straßenanzug mit weißem Hemd ohne Krawatte auf. Das ist eher sympathisch. Die Zeiten, in denen der Pianist im Frack auftritt, gehören der Vergangenheit an. Immerhin nimmt sich Fray die Zeit, das Publikum kurz zu begrüßen, ehe er sich auf den Stuhl setzt, an das Klavier heranrückt, bis die Oberschenkel zur Hälfte unter der Klaviatur verschwinden, und mit einem weißen Baumwolltüchlein die Tasten abwischt, das ihm später als Schweißtuch dienen wird. Da sitzt er nun auf seinem Küchenstuhl, vor ihm der Abendbrottisch, von dem er sich nach Herzenslust bedienen kann. Und so rückt er Teller und Besteck zurecht, um beherzt zuzugreifen. Irritiert ihn der stumpfe Klang des Flügels? Man sieht es ihm nicht an. Aber sowohl das Klavierstück in Es-Dur als auch die Wanderer-Fantasie in C-Dur geht er, drücken wir es freundlich aus, expressiv an. Fray reitet die Attacke und das mitunter recht eilig, als gelte es, den Nachtzug in die Heimat zu erreichen.

Der Flügel mag es nicht, an die Grenzen gebracht zu werden, und reagiert hier und da mit einem unangenehmen Nachsirren. Zudem unterstützt Fray seine Attacken mit heftigem Aufstampfen des linken Fußes, das unüberhörbar ist, aber auf keinen Fall zum Stück gehört und ihm auch nicht dienlich ist. Dabei geht es hier um Kritik auf höchstem Niveau, auch wenn die Schubert-Stücke kaum große Virtuosität verlangen. In den übrigen Teilen der Welt mag Fray mit dieser Interpretation sogar großen Anklang finden, in Mönchengladbach als Nachbarstadt von Düsseldorf, wo man sich den Generalmusikdirektor eher in der Wohnstube vor dem Klavier vorstellt, ist dieser Rock’n’Roll irritierend.

Aus dieser Sicht gefällt der Umgang mit vier Stücken aus Années de Pèlerinage von Franz Liszt erheblich besser. 1855 erstmals veröffentlicht, sind die Pilgerjahre, so die deutsche Übersetzung, 26 Charakterstücke, die dem Komponisten dienten, zu sich selbst zu finden. Die Virtuosität steht hinter der Entwicklung eigenständiger musikalischer Gedanken und harmonischen Experimenten zurück. Obwohl es Fray deutlich nicht mag, lässt sich das Publikum nicht nehmen, nach jedem Stück zu applaudieren. Auch für diesen Teil des Abends verzichtet Fray auf Notenpapier, wie man es von einem Musiker seiner Exzellenz erwartet. Dass er sich nach dem Après une lecture de Dante aus dem zweiten Pilgerjahr theatralisch erschöpft auf der linken Seite der Klaviatur niedersinken lässt: geschenkt. Ein bisschen Show darf schließlich sein. Vor seinen beiden Zugaben ruft er „Bach!“ in den Saal, und es klingt wie ein Schlachtruf. Tatsächlich präsentiert er die folgenden Stücke so, wie man sich die vorangegangenen gewünscht hätte. Voller Grandezza, das Piano zärtlich auskostend, das selbst der Flügel dem nichts entgegenzusetzen hat. Da ist sie, die Weltklasse.

Michael S. Zerban