O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

Sternstunde an historischem Ort

ALEXANDRA DOVGAN IN MÖNCHENGLADBACH
(Ludwig van Beethoven, Robert Schumann, Frédéric Chopin)

Besuch am
9. Mai 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Kaiser-Friedrich-Halle, Mönchengladbach

Zwischen 1901 und 1903 entstand in Mönchengladbach eine städtische Fest- und Veranstaltungshalle im Jugendstil. Aus unerfindlichem Grunde wurde sie zu Ehren des 99-Tage-Kaisers Friedrich III. Kaiser-Friedrich-Halle genannt und heißt bis heute so. Städtebaulich prominent liegt sie auf einem Hügel an der Bismarckstraße und am südlichen Rand des Bunten Gartens, der aus dem ehemaligen Kaiserpark, einer aufgegebenen Friedhofsfläche und dem Areal der Deutschen Rosenschau von 1928 hervorgegangen ist. Ein wunderschönes Gebäude, das bis heute als Konzert- und Tagungshalle vermarktet wird. Plakate weisen auf Tingelbands und Standup-Comedians hin. Hier scheint aber gründlich was schief zu laufen. Umso erfreulicher, dass heute Abend der Auftritt von Alexandra Dovgan angekündigt ist.

Mit viereinhalb Jahren verliebte die Tochter zweier Pianisten aus Moskau sich in das Klavier. Und damit begann ihre Karriere. Bis heute studiert sie bei Mira Marchenko, nachdem sie im Alter von fünf Jahren die Aufnahmeprüfung der Academic Central Music School in Moskau absolvierte. Seither hat sie bereits bei fünf internationalen Wettbewerben gewonnen und in einigen der wichtigsten Konzertsäle debütiert. Ja, man darf das kritisch sehen, wenn man Alexandra nicht kennt. Aber das „Wunderkind“ greift bei ihr nicht. „Obwohl ihr Klavierspiel ein Wunder ist, so hat es doch nichts Kindisches an sich. Was wir hören, ist die Interpretation eines erwachsenen Individuums, einer voll ausgeformten Persönlichkeit“, gibt Grigory Sokolov über das Spiel der inzwischen 15-Jährigen zu Protokoll. Das kann man diskutieren. Das Mädchen, das in Mönchengladbach, also in einem ihm wildfremden Land, dessen Sprache es nicht kennt, auf der Bühne steht, ist weit von einer „voll ausgeformten Persönlichkeit“ entfernt. Glücklicherweise. Mit 15 hat einen eher voll das Pubertier im Griff. Die Bewegungen sind einstudiert und abgezirkelt. Die Unsicherheit steht ihr in großen Lettern ins Gesicht geschrieben. Aber in dem Moment, in dem sie vor dem Konzertflügel Platz nimmt, auf dem kein Notenblatt liegt, verabschiedet sie sich in eine andere Welt. Nein, sie tritt nicht mit den Zuschauern in einen Dialog. Aber sie lädt sie ein in ihr eigenes Universum.

Mit der Sonate Nr. 17 d-moll opus 31 Nr. 2 von Ludwig van Beethoven legt Alexandra die Messlatte gleich mal nach ganz oben. Transparent und klar akzentuiert ist ihr Spiel. Was andere „Weltklasse“-Pianisten mit asiatischem Drill nicht erreichen werden, hat die junge Musikerin längst überwunden. Auf einer metaphysischen Ebene kümmert sie sich nicht mehr um Noten oder Griffe, sondern geht ganz in der Musik auf. Das ist ein eindrucksvolles Erlebnis, das in seiner Wirkung auch nicht nachlässt, als sie Robert Schumanns Faschingsschwank aus Wien opus 26 vorträgt. Dass es sich dabei um ein fünfsätziges Werk handelt, ist den wenigsten Besuchern bekannt. Geduldig ignoriert sie den Beifall. Nein, diese Menschen werden sie nicht aus ihrem Kosmos herausschleudern. Dazu ist die Musik viel zu kostbar.

Nach einem Zwischenspiel interpretiert Alexandra vier Balladen von Frédéric Chopin. Da kann man nicht einmal im Konzert sein Schläfchen machen, weil viel zu aufregend ist, was die Pianistin hier an eigener Interpretation bietet. Mit Leichtigkeit und Eleganz behält sie stets den Überblick, bewegt sich mit einer selten erlebten Souveränität durch die Geschichten, die sie erzählt. Ein Glücksfall, das erleben zu dürfen, ist es auch für jene, die nicht so viel vom Klavierspiel verstehen, sondern mehr aus „gesellschaftlichen Gründen“ im Konzert sitzen. Beinahe zwei Stunden bezaubert Alexandra das Publikum, ehe sie wieder steif und ungelenk vor dem Klavier steht und sich schnell verbeugt. Erst als die Menschen im Saal sich erheben, um ihrem stürmischen Applaus mehr Ausdruck zu verleihen, gleitet ein befreites Lächeln über ihr Gesicht.

Ja, man wird von ihr sicher noch viel hören – und dann wird man mit Sicherheit voller Dankbarkeit auch an diesen Abend in der Mönchengladbacher Kaiser-Friedrich-Halle zurückdenken. Vorerst aber sei auch dieser Gedanke erlaubt: Wenn ein Mensch mit 15 Jahren schon eine solche Meisterschaft erlangt, wie wird er die nächsten 65 Jahre gestalten? Welche Ziele, welche Träume bleiben noch? Dem wundervollen Kind am Klavier stellen sich diese Fragen hoffentlich noch nicht. Ihm sei die Freude an der Tastatur und in den Augen seiner Mitmenschen gegönnt.

Michael S. Zerban