O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Freundliche Vision

ZU BESUCH BEI RICHARD STRAUSS
(Richard Strauss, Percy Grainger)

Besuch am
1. Oktober 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Kulturvilla Mettmann

Eine Matinee, also eine Vormittagsveranstaltung, ist Geschmackssache. Für Nachtschwärmer ist sie sicher nichts. Und der Moment, wenn man nach einem Konzert im abgedunkelten Saal in die grelle Mittagssonne tritt, gehört zu den eher speziellen Erfahrungen im Leben. Da muss es schon gewichtige Gründe geben, an einem Sonntagmorgen um zehn Uhr das Haus zu verlassen. Ein solcher Grund liegt zum Beispiel dann vor, wenn Lavinia Dames zu einem ungewöhnlichen Programm in die Kulturvilla Mettmann einlädt.

Die Sopranistin ist in Göttingen geboren, ging beizeiten als Studentin der Frühförderung musikalisch Hochbegabter an die Musikhochschule Hannover, ehe sie ihr Gesangsstudium mit Auszeichnung an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien beendete. Seit 2014 ist sie Ensemblemitglied der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg. Gastengagements führten sie bislang quer durch Deutschland, in die Schweiz, nach Dänemark und Schweden. Zusätzlich findet die Sängerin noch Zeit, gemeinsam mit Carson Becke ein Lied-Programm zu entwickeln. Das haben die beiden bereits beim Oxford-Liederfestival, in Salzburg, Garmisch, Berlin, Göttingen und auf Sylt gezeigt.

Foto © O-Ton

In Kanada geboren, studierte Pianist Carson Becke an der Royal Academy of Music in London und in Oxford. Nach 15 Jahren in England kehrte er 2019 zurück in die kanadische Heimat. Heute lebt er in Wakefield, Quebec – wenn er nicht gerade mit Dames durch Deutschland tourt. Zu Besuch bei Richard Strauss heißt das zwei Stunden umfassende Programm, das sich dadurch auszeichnet, dass es keine reine Lied-Revue ist, sondern die Auftritte von Strauss mit der befreundeten Sängerin Elisabeth Schumann imitiert. Deren Abendzettel sind im Wiener Musikverein archiviert. Die Besonderheit: Zwischen den einzelnen Liedern improvisierte Strauss am Klavier und verband sie so zu einem großen Ganzen. Wie sich das konkret gestaltet, ist also nun in der Kulturvilla Mettmann zu erleben, deren Saal überraschend bis auf nahezu den letzten Platz besetzt ist.

Die Herzen der Besucher haben die beiden Künstler noch vor Beginn des Konzerts erobert. Es ist nicht nur das herzliche und offene Lächeln, sondern sicher trägt auch die Kleidung der beiden dazu bei, die auf Frack und Abendkleid verzichten. Das Signal ist deutlich. Heute geht es nicht um Konvention oder Tradition, sondern darum, das Publikum mit der Straussschen Musik zu verzaubern. Dames beginnt gleich mal mit der Zueignung, einem Lied, das sonst gerne als Zugabe eingesetzt wird. Angekündigt ist, dass Becke zwischen den Liedern über Stellen aus dem Rosenkavalier improvisiert, eben ganz so, wie es Strauss in Wien praktiziert hat. Und schnell ist die Befürchtung zerstreut, nun ewig lange Klavierpassagen anhören zu müssen. Becke schafft vielmehr kurze instrumentale Überleitungen, in denen Dames gerade mal Zeit findet, ein paar Mal Luft zu holen.

Strauss war zeit seines Lebens begeisterter Liedkomponist. Ob als sechsjähriger Bub oder als 84-Jähriger faszinierte ihn, Dichterworte mit Musik zu untermalen. „Nicht nur seine Leidenschaft für schöne Frauen schlug sich darin nieder, sondern auch seine Begeisterung für schöne Stimmen und für die Dichtkunst“, heißt es dazu im Kammermusikführer. Dabei war ihm wichtig, die Melodie der Verse zu finden – und danach wählte er auch durchaus die Texte aus. Dames und Becke haben daraus ein Potpourri aus den verschiedenen Liedersammlungen zusammengestellt. So geht es mit Du, meines Herzens Krönelein und All‘ mein‘ Gedanken aus den Schlichten Weisen nach Gedichten von Felix Dahn weiter. Jung Hexenlied entstammt den Fünf Liedern aus dem Jahr 1898, Traum durch die Dämmerung ist das erste von Drei Liedern nach Gedichten von Otto Julius Bierbaum von 1895. Weitere Fünf Lieder mit der Opuszahl 41 entstanden 1899, darunter das hier präsentierte Wiegenlied, mit dem dann auch der erste, durch die Improvisationen verbundene Block endet.

Foto © O-Ton

Dem Jahr 1918 entstammen die Sechs Lieder nach Gedichten von Clemens Brentano, aus denen Dames Ich wollt‘ ein Sträußlein binden und Säusle, liebe Myrte singt. Achim von Arnim verfasste die Gedichte Einerlei und Der Stern, von Heinrich Heine stammt das Gedicht Schlechtes Wetter. Alle drei finden sich in Fünf kleinen Liedern, die ebenfalls im letzten Kriegsjahr entstanden. Auch Freundliche Vision hat Bierbaum verfasst, das Strauss 1900 komponierte und sich in der gleichen Liedersammlung findet wie Ich schwebe. Mit Ich trage meine Minne und Schlagende Herzen aus früheren Kompositionen schließt auch dieser Teil. Auch hier lässt sich keine Logik in der Zusammenstellung erkennen. Das darf man aber auch getrost der Sängerin überlassen, die vermutlich zu diesem Zeitpunkt längst Vokalisen singen könnte, ohne ihre Hörer zu überraschen. Allzu sehr zieht sie mit ihrer lyrischen Stimme, die die Leichtigkeit der Soubrette mit der Ernsthaftigkeit des dramatischen Soprans in reizvoller Weise vereint, das Publikum in ihren Bann.

Hat sich Becke in der ersten Hälfte als herausragender Liedbegleiter profiliert, der die Akzente richtig zu setzen weiß, ohne sich aufzudrängen, die Begleitung aber in einer Linie mit seinen Improvisationen verbindet, zeigt er mit der Fantasie über das Schlussduett aus dem Rosenkavalier von Percy Grainger einen Ausschnitt seiner solistischen Fähigkeiten. Die Vier letzten Lieder hat er selbst arrangiert und dem Klavier dabei durchaus einen größeren Anteil gegönnt, der von den Hörern gern angenommen wird. Nach Frühling, September und Beim Schlafengehen gelingt es Dames mit Im Abendrot eine zu Herzen gehende Tragik aufzubauen, die das Finale tatsächlich im Feuerrot untergehender Sonne erscheinen lässt.

Rauschender Beifall, nur übertüncht von Bravo-Rufen, bei den stehenden Besuchern. Der Zugabe bedarf es nicht, und doch bietet sie einen versöhnlichen Ausgang. „Und morgen wird die Sonne wieder scheinen, und auf dem Wege, den ich gehen werde, wird uns, die Glücklichen, sie wieder einen inmitten dieser sonnenatmenden Erde“, heißt es im Gedicht Morgen von John Henry Mackay, das Strauss 1894 vertont hat. Mit so viel Optimismus verabschieden sich die Künstler und hinterlassen glückliche Menschen. Hätte dieser außergewöhnliche Auftritt möglicherweise am Abend mehr Wirkung entfalten können? Mag sein. Aber die Alternative stellt sich nicht. Denn am Abend wird Lavinia Dames als Blumenmädchen in Richard Wagners Parsifal in Düsseldorf auf der Bühne der Rheinoper stehen. In dieser Spielzeit wird sie außerdem als Sophie im Rosenkavalier von Strauss, als Karolka in Leoš Janáčeks Jenůfa sowie als Pamina und Gretel zu erleben sein. Der heutige Auftritt wird das in der Erinnerung des Publikums in der zauberhaften Atmosphäre der Kulturvilla allerdings überstrahlen.

Michael S. Zerban