Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
ES TREIBT MICH HIN, ES TREIBT MICH HER
(Matthias Schlothfeldt)
Besuch am
16. Dezember 2022
(Premiere am 15. Dezember 2022)
Als Christian Binde, Künstlerischer Leiter der Compagnia di Punto, einem Kammerorchester, den Komponisten Matthias Schlothfeldt darauf ansprach, ob er eine Orchesterfassung von Schumann-Liedern arrangieren wolle, war es mehr ein Auftragsangebot als eine Idee. Schlothfeldt, seit vielen Jahren ein Fan von Georg Büchner, erschien das ein wenig profan. Was aber, wenn man die Lieder, die Robert Schumann zu Heinrich-Heine-Gedichten vertont hatte, mit Szenen aus Woyzeck kombinierte? Schnell wurde die Idee weiterentwickelt, und so entstand aus dem Plan, ein Schumann-Konzert zu konzipieren, eine musikalische Theateraufführung. Also wählte Schlothfeldt Schumann-Lieder und Szenen aus dem Romanfragment Woyzeck aus, arrangierte Orchesterfassungen für die Lieder und komponierte Zwischenmusiken für die Übergänge zu den szenischen Darstellungen. Außerdem passte er die Reihenfolge der Lieder der Dramaturgie an. Tenor Ian Bostridge erfuhr von dem Projekt und war spontan begeistert. Erkannte er doch sofort den Ansatz, eine Essenz aus der Klavierfassung zu gewinnen, die den Liedern zusätzliche Würze verleihen könnte.
Foto © O-Ton
Für den Abend, an dem Mettmann bei Minusgraden im Nebel versinkt, ist eine Aufführung in der Aula des Heinrich-Heine-Gymnasiums im Stadtteil Metzkausen angesetzt. Im Grunde schon die vollkommen richtige Atmosphäre für das Vorhaben, aber nicht so sehr geeignet, Publikum anzulocken, zumal es eindeutig Insider-Kenntnisse erfordert, den Zugang zu dem Festsaal zu finden. Der Hausmeister ist so freundlich, auf dem Schulhof herumirrenden Gästen den rechten Weg zu weisen. Trotzdem ist der Saal kaum zur Hälfte gefüllt. Angesichts der Tatsache, dass es in Mettmann nicht jeden Tag vorkommt, dass einer der besten Liedsänger der Welt zu Gast ist, ist das ein eher trauriges Bild. Da helfen auch die Gäste nicht, die eigens aus Köln und Düsseldorf angereist sind. Aber was soll’s? Die Besucher rücken zusammen, und so entsteht ein fast schon familiäres Bild vor der Bühne. Die ist gewollt schmucklos gehalten. Die Compagnia di Punto hat mit zehn Musikern Platz genommen. So bleibt noch Platz für einen Stuhl und die räumlichen Bewegungen der Schauspielerin, die für die Aufführung zusätzlich nötig ist. Auf eine Sängerin, die beispielsweise aus der Oper Wozzeck von Alban Berg oder der von Manfred Gurlitt zitiert, verzichtet Schlothfeldt. Ihm ist das Spannungsfeld zwischen lyrischer Lieddarstellung und dramatischem Schauspiel wichtiger.
Foto © O-Ton
Zwei Tage vorher wusste Paula Winteler noch nicht, dass sie nun als Ersatz für Marina Garlic in all die verschiedenen Rollen schlüpfen muss, um die szenischen Fragmente zu bedienen. Mit Unterstützung des Theaterpädagogen Frank Rohde, der jetzt auch als Regisseur fungiert, schafft sie sich das nötige Rüstzeug binnen kürzester Zeit rauf. Und das macht sie großartig. Ja, gleich im ersten Bild, wenn sie auf dem Stuhl neben dem Orchester sitzt und mit dem Messer schnitzt, erinnert sie eine Zuschauerin an Albrecht Dürers Melancolia I, einen Kupferstich aus dem Jahr 1514, der zwar etwas üppiger ausfällt, aber falsch ist die Assoziation sicher nicht. Denn besonders freudvoll geht es bei Woyzeck bekanntlich nicht zu, wenn Büchner versucht, aus dem Protagonisten ein Opfer seiner Umstände zu machen. Der so lange in die Enge Getriebene, der sich schließlich nicht anders aus seiner Not zu helfen weiß, als Marie umzubringen.
Schlothfeldt vermag da sogar Parallelen zum Leben Schumanns zu sehen, wenn er an seine Behandlung als Düsseldorfer Generalmusikdirektor denkt. In dieser Gedankenwelt gelingt es ihm, ein sehr geschlossenes, spannungsreiches musikalisches Bild zu entwickeln, das darauf verzichtet, „programmatisch“ oder nacherzählend zu wirken und stattdessen eher die Stimmungsfelder aufzuzeigen, in denen sich die Akteure bewegen. Dabei ist es nach seiner Ansicht nicht vonnöten, jede Textstelle zu verstehen oder sich gar im Woyzeck blind auszukennen. Vielmehr darf der Hörer sich hier zurücklehnen und ganz auf die vortreffliche Arbeit des Orchesters verlassen, das mit sichtbarer Spielfreude ans Werk geht. Auch Ian Bostridge lässt sich, wie nicht anders zu erwarten, ganz auf die Klangwelt ein und unterstreicht sie mit seiner eigenen Interpretation der einzelnen Lieder. Dass die Regie ihn dabei an den Stuhl festnagelt, kann man diskutieren, aber der Tenor hat das im Griff. Erst, wenn der Komponist ihn ins Falsett zwingt, muss er sich doch gewaltig anstrengen. Wie viele Sänger seines Bekanntheitsgrades gibt es, die sich auf einen solch ungewöhnlichen Abend einlassen? Vermutlich nicht allzu viele. Aber gerade damit zeigt er seine wahre Größe.
Auch das Publikum weiß zu würdigen, dass Bostridge sich vollständig in die Reihe stellt. So hat man ihn sich vorgestellt. Unter kaum enden wollendem Applaus wird nach einer Stunde eine Aufführung gefeiert, die die Zuschauer von Anfang bis Ende auf der Stuhlkante hält. Und wenn es Christian Binde und seinem Team gelingt, das Stück auf Tour zu schicken, gibt es eigentlich nur noch eines, was zu ändern wäre: Dann sollte ein Programmheft mit dabei sein.
Michael S. Zerban