Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
TOTENSONNTAG
(Diverse Komponisten)
Besuch am
21. November 2021
(Einmalige Aufführung)
Evangelische Kirchengemeinde Meerbusch-Büderich, Bethlehemkirche
Der Totensonntag ist, stark vereinfacht, in den evangelischen Kirchen in Deutschland ein Gedenktag für die Verstorbenen. Es ist der letzte Sonntag vor dem ersten Adventssonntag und damit der letzte Tag des Kirchenjahres. Und für Ekaterina Porizko der ideale Tag, um sich künstlerisch mit 1700 Jahren jüdischen Lebens in Deutschland auseinanderzusetzen. Die Dirigentin, Organistin und Komponistin ist Kantorin der Evangelischen Kirchengemeinde Meerbusch-Büderich. Wichtig für ihre engagierte Arbeit ist ihr, dass die Gemeinde sehr offen für andere Religionen ist. Der ökumenische Gedanke ist hier gelebter Alltag, sagt sie. Und das bedeutet der weltoffenen Musikerin viel. Um die Besonderheit des Tages zu unterstreichen, hat Porizko gleich einen ganzen Konzertreigen geplant. Nach einem Eröffnungskonzert am Mittag und einem Vortrag über synagogale Musik beginnt zu jeder Stunde ein etwa halbstündiges Konzert.
Aufführungsort ist die Bethlehem-Kirche im Meerbuscher Ortsteil Büderich, nur wenige Kilometer von Düsseldorf entfernt. 1965 wurde der weiße Kirchbau mit dem Faltdach und dem einzeln stehenden Glockenbau an der Dietrich-Bonhoeffer-Straße eingeweiht. Architekt Rainer Herbeck aus Düsseldorf legte gemäß den Wünschen des damaligen Pfarrers Hütt viel Wert auf Sachlichkeit. Auf der linken Seite des Foyers liegen der Gemeindesaal und das Büro der Kantorin. Die rechte Seite nimmt der Kirchraum mit den eindrucksvollen blauweißen Kirchfenstern ein, die, von Hans Hofacker gestaltet, für interessante Lichteffekte sorgen. Heute stehen die Eingangstüren zum Kirchraum auf. So entsteht zwar keine „Konzertraumatmosphäre“, dafür aber das Gefühl, dass hier jeder ohne großen Aufwand willkommen ist.
Sopranistin Ekaterina Somicheva hat sich mit dem Lautenisten Konstantin Shenikov ein besonderes Programm einfallen lassen. Letzterer greift statt seiner Laute zu einer historischen Gitarre, um Psalmen von Nicolas Vallet darzubieten und die Sängerin bei der Interpretation sephardischer Lieder zu begleiten. Sephardim sind eine der drei Hauptzweige der Juden in der Diaspora. Sie waren ursprünglich auf die iberische Halbinsel konzentriert, sind aber heute über die gesamte Mittelmeerregion verbreitet. Somicheva hat vier Lieder ausgewählt, die sie in Ladino, einer abgewandelten Kunstsprache des Judenspanischen, vorträgt. La rosa enflorece – die Rose blüht auf im Monat Mai – ist ebenso ein sehr poetisches Liebeslied wie das nachfolgende Yo m’enamori d’un ajre – ich bin in eine Brise verliebt. Bei Petenera, einer Tanzmelodie in der Art des Flamencos, greift Somicheva zu Kastagnetten, die sie mindestens so gut beherrscht wie ihre Stimme. Mit A la una yo naci – um ein Uhr bin ich geboren – schließt der kleine, liebevolle Reigen, den die Sängerin beseelt vorträgt. Natürlich ist niemand im Raum, der ihre sprachlichen Fertigkeiten beurteilen könnte, aber wen interessiert das auch? Die Geste zählt, und der klangliche Vortrag begeistert das Publikum.
Magnus Enckelmann – Foto © O-Ton
Das Schöne an diesem kleinen Konzertmarathon ist, dass hier jeder gehen und kommen kann, wann er will. Das schafft eine sehr entspannte Atmosphäre. Viele Gemeindemitglieder halten auf einen kleinen Plausch vor der Türe, während die Pfarrerin die Impfnachweise kontrolliert. Und auch gleich ein paar ihrer trägen Schäfchen an die Termine für die Auffrischungsimpfung erinnert. Hier achten die Menschen aufeinander. Nur wer sich entschließt, länger oder womöglich für die gesamte Dauer des Nachmittags zu bleiben, ist im Nachsehen. Ein kleiner Imbiss hätte den Gesamteindruck sicher abrunden können.
Dafür steht zur nächsten vollen Stunde ein weiterer Ohrenschmaus an. Mit diesem Programmpunkt erfüllt Ekaterina Somicheva ein lange gegebenes Versprechen. Basia Rubin wurde Ende des 19. Jahrhunderts in dem Städtchen Dolginovo außerhalb der Ansiedlungsgrenze des russischen Kaiserreichs geboren. Die Rubins waren eine traditionelle jüdische Familie. Basia hatte sieben Schwestern und einen Bruder. Im Städtchen wie in der Familie wurde jüdisch gesprochen. Basia wurde Zahnärztin, aber ihre freie Zeit widmete sie ihren Kompositionen. Im Laufe ihres Lebens hat sie mehr als 200 Melodien und Lieder verfasst, die Gedichte und Texte dazu schrieb sie überwiegend selbst. 1941 sollte ihr die Musik gar das Leben retten. Während sie in Minsk weilte, wohin sie eingeladen war, um ihre Musik aufzuführen, fiel Dolginovo einem Luftangriff zum Opfer. Von der großen Familie blieben nur vier Schwestern am Leben. Eine der Nichten von Basia Rubin war Irina Bychkovskaya, die immer davon träumte, die Rubin-Lieder im Konzert zu hören. Dazu sollte es nicht mehr kommen, weil Bychkovskaya im vergangenen Jahr verstarb. Und so führt Somicheva das Konzert immerhin posthum in Memoriam auf. In Axel Weggen, Leiter des Synagogenchors der jüdischen Gemeinde Düsseldorf, fand die Sängerin eine wertvolle Unterstützung. Er sprach ihr die jiddischen Texte ein, damit sie die richtige Aussprache einüben konnte. Und Somicheva legte noch eins drauf. Zusätzlich zur Klavierbegleitung arrangierte sie eine Geigenstimme, die sie dem jungen Magnus Enckelmann auftrug. Bei dem Namen horchen Düsseldorfer auf. Da gibt es doch einen Repetitor und Dirigenten an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg mit Namen Ville Enckelmann? In der Tat. Und doch ist es nicht der prominente Vater, der hier seinem Sohn zu einem Auftritt verhilft. Die Welt ist noch kleiner. Denn Magnus‘ Mutter unterstützt Somicheva bei ihren Gesangsübungen. Sie ist die finnische Sopranistin Tiina-Maria Enckelmann. Magnus ist also jetzt eingeladen, einige Lieder mit der Geige zu begleiten. Die Anforderungen sind durchaus überschaubar, aber sie geben dem jungen Musiker Gelegenheit zu zeigen, dass er neben der Technik auch sehr gut in der Lage ist, den Strich emotional zu führen. Da ist schon einiges durchzuhören und zu erahnen, was sich in Zukunft entwickeln kann. Mit Ekaterina Porizko hat Somicheva die ideale Begleitung am Stutzflügel. Wie weit ihr Jiddisch tatsächlich gelungen ist, muss dahingestellt bleiben. Aber das, was man davon versteht, klingt sehr überzeugend. Auf jeden Fall begeistert die Sopranistin mit ihrem stimmlichen Vortrag. Abgerundet hätte das Programm sicher ein Blatt mit den Texten und ihrer Übersetzung. Aber auch so ist dem Trio ein rundum gelungener Beitrag gelungen.
Berenike Keppler-Rau – Foto © O-Ton
Als letzten Beitrag in der Bethlehem-Kirche gibt es eine „musikalische Lesung“, ein Format, das Porizko besonders gefällt. Berenike Keppler-Rau ist eigens aus Stuttgart angereist, um eine Textauswahl vorzutragen, die sie den Dokumenten der KZ-Überlebenden Friedl Burda entnommen hat. Es ist eine gelungene Mischung aus den Gräueln der Konzentrationslager und dem hin und wieder erfolgreichen Bemühen der Insassen, sich dagegen zu wehren – wenn auch oft nur im Kleinen. Keppler-Rau trägt mit der nötigen Distanz vor, und es macht Spaß, ihr zuzuhören. Aber eindrucksvoller ist doch die Musik, die Porizko eigens für diesen Vortrag komponiert hat. Kraftvoll bearbeitet sie den Flügel, legt Melodie-Einsprengsel zwischen Dissonanzen und fängt Stimmungen des Gelesenen ein. Ein Lächeln kann man sich dabei nicht verkneifen. Denn die Pianistin hat statt einer Partitur die Texte vor sich auf dem Klavier liegen. Nach diesem Nachmittag ist klar: Es ist an der Zeit, dass Porizko eigene Werke vorlegt, die über die Begleitung einer Lesung hinausgehen.
Es ist sehr angenehm, dass die Konzertserie sich auf die Bethlehem-Kirche beschränkt, so dass lästige Wege entfallen und die entspannte Stimmung über den Nachmittag aufrechterhalten bleibt. Was man sich sicher gewünscht hätte, wäre eine größere Beteiligung der Gemeinde gewesen. Da bleibt doch sehr viel Platz in den Zuschauerreihen frei. Das große Abschlusskonzert findet dann am Abend in der Christuskirche statt. Bariton Amnon Seelig und das Lewandowski-Ensemble werden dann synagogale Musik unter Leitung des Organisten Axel Weggen vortragen. Da werden sich die Reihen hoffentlich noch mal richtig füllen. Verdient hat es dieser Tag ebenso wie eine Fortsetzung der Veranstaltung.
Michael S. Zerban