O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Abschiedsfest

MATTHÄUS-PASSION
(Johann Sebastian Bach)

Besuch am
5. März 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Christuskirche, Meerbusch-Büderich

Inzwischen ist es offiziell. Ekaterina Porizko, Kantorin der evangelischen Kirchengemeinde Büderich, verlässt Meerbusch, um in das Landeskirchenamt der evangelischen Kirche im Rheinland nach Düsseldorf zu wechseln. Aber sie geht nicht, ohne ein unglaubliches Projekt zu beenden, das sie mit der Kantorei begonnen hat. 2020 reiste die Kantorin mit ihrem Chor nach St. Petersburg, um dort mit russischen Kollegen die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach aufzuführen. Porizko erfüllte sich damit einen langgehegten Traum, und sie wollte damit auch den Umstand feiern, dass es seit mehr als 80 Jahren keinen Krieg in Europa gegeben hatte. Das roch schließlich ein bisschen nach Ewigkeit. Wenn das kein bilaterales Projekt rechtfertigt! Entstanden ist dazu ein sehenswerter Dokumentarfilm, bis heute hat sich das Ereignis fest in das kollektive Gedächtnis des Chors eingegraben und längst gibt es auch das Album mit der Aufzeichnung.

Seit der Rückkehr schien die Aufführung vom Pech verfolgt. Denn selbstverständlich sollte ja ein Gegenbesuch der russischen Seite das Projekt abrunden. Erst verhinderte das die Pandemie und dann das, was niemand für möglich gehalten hätte: Ein Krieg, angezettelt vom russischen Staatsoberhaupt. Endlich entschloss sich Porizko schweren Herzens, die Matthäus-Passion ohne die russischen Freunde aufzuführen. Denn schließlich stand ein weiterer „Superlativ“ auf dem Spiel. Noch nie zuvor ist das kirchenmusikalische Werk in Meerbusch aufgeführt worden. Die Choristen zogen mit. Während ihre Leiterin die Finanzierung sicherstellte, bereiteten sie sich mit Feuereifer auf die Aufführung vor. Wohl kein Haushalt, in dem der Klavierauszug nicht ständig herumlag, vermutlich hätte man die Chormitglieder auch daran erkennen können, dass die Aufnahmen der Passion aus ihren Wohnungen erklangen. Von gegenseitigen Besuchen der Chormitglieder untereinander und den Proben ganz zu schweigen.

Ekaterina Porizko – Foto © O-Ton

Endlich ist es so weit. Die letzte große Aufführung als Kantorin in der Meerbuscher Kirchengemeinde kann beginnen. Die Christuskirche im Stadtteil Büderich ist einschließlich der Empore bis auf nahezu den letzten Platz besetzt. Im Altarraum herrscht ohnehin dichtes Gedränge. Schließlich müssen hier der Chor, die Philharmonie Frankfurt, das Cembalo und die Solisten unterkommen. Der Pfarrer, der sich in seiner Einführung zu einem „Liebesgeständnis“ an Porizko hinreißen lässt, ist voll des Dankes, erwähnt aber mit keinem Wort, dass sie mit diesem Abend Abschied nimmt. Er weist aber sehr wohl darauf hin, dass in Erinnerung an die russischen Mitstreiter die zweite Strophe des Chorals O Haupt voll Blut und Wunden gestrichen worden sei. Was sich ohne weitere Erläuterung nicht so ganz erschließt. In der zweiten Strophe des Chorals, der Jesus am Kreuz beschreibt, heißt es: „Du edles Angesichte, davor sonst schrickt und scheut das große Weltgewichte, wie bist du so bespeit, wie bist du so erbleichet! Wer hat dein Augenlicht, dem sonst kein Licht nicht gleichet, so schändlich zugericht‘?“ Aber gut, soll es das Geheimnis des Chors bleiben, das Werk ist mit seinen mehr als drei Stunden ohnehin lang genug.

Für das, was Porizko und ihre Mannschaft hier auf die Beine stellt, werden anderswo Regisseure engagiert. Im Hintergrund und damit um das Kreuz herum versammelt hat sich der Chor aufgestellt. Davor hat das Orchester Platz genommen. Die Solisten sind über diesen Raum verteilt und wechseln auch schon mal ihre Positionen, wenn die „Handlung“ das vorgibt. So entsteht eine ständige, unaufdringliche Bewegung im Raum, die das Geschehen der Passion dramaturgisch unterstreicht.

Stella Antwerpen und Ekaterina Somicheva – Foto © O-Ton

Die umfangreiche Vorarbeit zahlt sich jetzt im akustisch schwierigen Raum aus. Die Kantorei ist ganz hervorragend ausbalanciert. Gerade eben noch textverständlich, ist sie laut genug, um Eindruck zu schinden. Das hinzubekommen, ist schon große Kunst. Schwieriger wird es bei Alt und Sopran. Stella Antwerpen und Ekaterina Somicheva müssen sich unmittelbar vor dem Orchester zwischen Ausdruck und Lautstärke entscheiden. Beide treffen die richtige Wahl und entscheiden sich im Zweifelsfall gegen Textverständlichkeit für den Ausdruck. Weil der Text im Programmheft abgedruckt ist, ist das die einzig richtige Wahl. Und so gibt es hier zahlreiche klangschöne Momente. Ulrich Cordes als Evangelist Matthäus treibt die Handlung voran und auch, wenn die eine oder andere Betonung ungewöhnlich klingt, folgt man seiner Erzählung gern. Gustavo Martin, Sebastian Klein und Sebastian Neuwahl tragen zu einem außergewöhnlichen Abend bei.

Das kann man auch von der Philharmonie Frankfurt sagen. Die fügt sich mit Freuden dem Dirigat Porizkos und damit in das Gesamtklangbild wunderbar ein. Selten darf man sich solcher Ausgeglichenheit erfreuen.

Was hat Pfarrer Wilfried Pahlke in seiner Einführung gesagt? „Karfreitag ist für mich kein Punkt, sondern ein Doppelpunkt.“ Wie recht er hat. Ekaterina Porizko hat für viel positiven Wirbel in ihrer Zeit in Meerbusch gesorgt. Und wenn sie jetzt mit ihrem Chor für ein rauschendes Abschiedsfest sorgt, werden viele Menschen ihre Arbeit vermissen. Aber alle wissen, dass sie heute Abend einen ganz dicken Doppelpunkt in ihrem Leben gesetzt hat. Und so überwiegt die Freude über den überaus gelungenen Abschied bei weitem den Verlust, der, so hört man, womöglich nicht einmal mehr Ersatz finden wird.

Michael S. Zerban