Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
AUF DEM WASSER ZU SINGEN
(Diverse Komponisten)
Besuch am
31. Dezember 2023
(Einmalige Aufführung)
Die Welt der klassischen Musik kann ganz schön abwechslungsreich sein. Man muss nur die Augen aufhalten. Und dann stößt man irgendwann auch auf Weltklassik am Klavier. Die Veranstalterin Kathrin Haarstick hat sich auf die Fahnen geschrieben, von Rysum, einem 700-Seelen-Ort in Ostfriesland, aus die Bundesrepublik mit Klavierkonzerten zu überziehen. Nach eigenen Angaben finden die Konzerte an 48 Spielorten in Deutschland statt. So kommen 400 Konzerte im Jahr zustande, ohne dass auf nur ein Cent öffentlicher Subventionen fließt. Die Auswahl der Künstler konzentriert sich auf junge Talente an den Tasten, wobei die Jugend relativ ist, wenn man sich die Biografien anschaut. Aber nicht nur auf der Bühne will Haarstick junge Leute sehen, sondern vor allen Dingen auch davor. Und so können Schüler bis 18 Jahre die Konzerte kostenlos besuchen. Studenten zahlen lediglich die Hälfte des regulären Eintrittspreises, zu Auszubildenden finden sich keine Angaben.
Foto © O-Ton
Einer der Spielorte, an denen man Weltklassik am Klavier regelmäßig – nämlich immer am letzten Sonntag im Monat – erleben kann, ist das Forum Wasserturm im Meerbuscher Stadtteil Lank. Ein Kulturzentrum der Stadt, das ansonsten das übliche Programm in der Fläche anbietet: Kabarett, Kabarett, Kabarett, Kindertheater, Kinoaufführungen. Damit gewinnt die Sonntagsaufführung noch einmal an Gewicht für den Stadtteil, scheint sie doch das einzige Angebot klassischer Musik zu sein. Obwohl der Saal mit seinen kahlen, weißen Wänden eher den Charme einer Turnhalle ausstrahlt, verfügt er bis zur Empore hoch über einen schönen Klang. Die Bühne ist mit wenigen Mitteln sehr gut ausgeleuchtet.
Hier tritt am späten Nachmittag Diana Sahakyan auf. Die Pianistin ist in Eriwan geboren und begann im Alter von sechs Jahren mit dem Klavierunterricht. Nach ersten Studien in der Heimatstadt setzte sie ihre Ausbildung an der Musikhochschule in Frankfurt am Main und an der Escuela Superior de Musica Reina Sofia in Madrid fort. Zahlreiche Meisterkurse rundeten ihre Kenntnisse ab. Davon zeugen auch etliche Auszeichnungen bei Wettbewerben. Inzwischen hat Sahakyan ihr zweites Album veröffentlicht. Für ihren Auftritt in Meerbusch allerdings hat sie ein eigenes Programm unter dem Titel Auf dem Wasser zu singen – Lyrik und Leidenschaft zusammengestellt.
Foto © O-Ton
1806 komponierte Ludwig van Beethoven 32 Variationen über ein eigenes Thema in c-Moll für Klavier. Im Alter von damals 36 Jahren war seine Schwerhörigkeit bereits fortgeschritten, was ihn nicht zu einem angenehmeren Mitmenschen machte. Ist es wirklich das Unwirsche, das man in Sahakyans Spiel zu vernehmen glaubt? Möglicherweise ist es Einbildung, aber es klingt sehr überzeugend. Nach dem gelungenen Auftakt begrüßt die Pianistin das Publikum, um es mit ein paar Worten auf den nachfolgenden Auszug aus dem Klavierzyklus Das Jahr von Fanny Hensel einzustimmen. 1841 entstand das Werk, in dem die Komponistin die Eindrücke einer Italienreise verarbeitete. „Ich habe es vollbracht, ich habe ein wirkliches Werk geschaffen, das den Vergleich mit niemand zu scheuen braucht“, soll Hensel über Das Jahr gesagt haben. Und das hört man auch, wenn Sahakyan März, Juni, September und November vorträgt. Im leisen Spiel scheint die Künstlerin die Tasten fast zu streicheln, und doch will sich bei Auf dem Wasser zu singen und Gretchen am Spinnrade von Franz Liszt das lyrische Empfinden nicht so recht einstellen. Was bleibt, ist Leidenschaft.
Leidenschaft ist das, was sie vor allem bei den Six Moments Musicaux auslebt. In den letzten drei Monaten des Jahres 1896 hat Sergej Rachmaninoff die sechs musikalischen Momente komponiert. Und wagt in der ersten Hälfte ihres Vortrags schon kaum ein Besucher, sich zu bewegen, um nur ja kein überflüssiges Geräusch zu erzeugen, greift Sahakyan dem Publikum mit Rachmaninoff an die Seele. Selbst die Kinder hocken mucksmäuschenstill und unbeweglich auf ihren Stühlen. Das erlebt man auch nicht so oft.
Im Grunde ist nach diesem Auftritt alles gespielt, das Herz läuft über. Aber darf man deshalb auf eine Zugabe verzichten? Sahakyan geht das Risiko nicht ein. Mit einem Gruß von Chopin und den Papillons von Mel Bonis hat sie glücklicherweise zwei kurze Stücke ausgewählt, die den Eindruck der Six Moments Musicaux nicht vollkommen überdecken. Das Publikum bedankt sich überschwänglich für eindreiviertel Stunden an irgendeinem Ort dieser Welt – ach ja, in Lank. Dann eilen die Besucher in die Dunkelheit hinaus, dem neuen Jahr entgegen.
Michael S. Zerban