O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Sinfonieorchester Magdeburg - Foto © Andy Wabst

Aktuelle Aufführungen

Seltenes aus dem Konzertsaal

RUSSISCHE KLÄNGE
(Sofia Gubaidulina, Rodion Schtschedrin)

Gesehen am
24. April 2021
(Live-Stream)

 

Theater Magdeburg

Anna Skryleva am Pult der Magdeburger Sinfoniker bringt sowohl biografisch wie musikalisch beste Voraussetzungen mit für die Aufführung von zwei Werken russischer Komponisten. Der  gebürtigen  Russin aus Moskau gelingt es ohne Mühe, das Magdeburger Sinfonieorchester zu einem temperamentvollen Konzert zu motivieren und  die gefühlvollen aktuellen Kompositionen musikalisch temperamentvoll zum Klingen zu bringen. Nach ihrer pianistischen Ausbildung in Moskau und Dirigierunterricht bei Lutz Herbig in Düsseldorf wirkt Skryleva zunächst als musikalische Assistentin, später als Dirigentin bei Produktionen des Gürzenich-Orchesters mit, ist danach an der Staatsoper Hamburg unter Leitung der Intendantin und GMD Simone Young tätig. Seit Beginn der Spielzeit 2019/2020 ist Skryleva Generalmusikdirektorin des Theaters Magdeburg.

Die nun schon fast 90-jährige, bekannte russische Komponistin Sofia Gubaidulina greift in ihrem Märchenpoem für Orchester auf das tschechische Kindermärchen Die kleine Kreide zurück und schafft schon 1971 ein Orchesterwerk, das in seiner Modernität überrascht. Die bei Hamburg lebende und komponierende, vielfach dekorierte Künstlerin zeichnet hier sensibel die poetische Geschichte  eines Stückes Schulkreide  nach, das „gern prächtige Schlösser, schöne Gärten und das weite Meer zeichnen würde“, aber schulisch an  langweilige Wörter, Zahlen und geometrische Figuren gebunden ist. Während die Kreide selbst immer kleiner wird, geht ihr Traum doch noch in Erfüllung. Ihre Kreide-Fantasien spiegeln sich in der sehr abwechslungsreichen Komposition wider. Holzbläser und ein großer Streicherblock führen langsam in das Thema ein, Querflöte und Kontrabass treten hinzu, eine längere Zupfpassage überrascht die Zuhörer mit eher schrillen Takten, bevor das Schlagwerk einen markanten Rhythmus vorlegt. Mit ihrem temperamentvollen, energischen Dirigat gibt Skryleva dem Orchester ein lebendiges Tempo vor.

Anna Skryleva – Foto © Nils Böhme

Im zweiten Stück des Live-Streams bringen die Sinfoniker mit der Carmen-Suite für Streichorchester und Schlaginstrumente nach Georges Bizet bekannte Melodien aus Bizets Oper Carmen zu Gehör. Der russische Komponist Rodion Schtschedrin setzt sich 1967 für eine Ballettproduktion des Moskauer Bolschoi-Theaters kreativ mit Bizets Oper auseinander und arrangiert sie für Streichorchester und Schlagwerk. Er kleidet Bizets Melodien in frische Klangfarben und bietet vor allem dem umfangreichen Schlagwerk viele Gelegenheiten, spanische Rhythmen erklingen zu lassen. Ob Holzblocktrommeln oder klangvolle Röhrenglocken, Kontrabässe, Triangel oder ein ganzer Paukensatz, Schtschedrin versteckt bekannte Melodien und Rhythmen wie die Habanera und den unvermeidlichen Torrero-Marsch in zahlreichen spanisch-musikalischen Andeutungen. Anna Skryleva betont die markanten, lebhaften Rhythmen, von denen viele an spanische Tanzrhythmen erinnern, mit wuchtigen Akzenten. Mit dieser Suite für Streichorchester und Schlagwerk ist Schtschedrin, der aus einer Moskauer Musikerfamilie stammt, schon früh bekannt geworden. Zu seinen vielfach ausgezeichneten Kompositionen gehört eine Reihe von Ballettmusiken, von denen viele für seine Frau Maja Plissezkaja im Moskauer Bolschoi-Theater gedacht sind, die dort lange Zeit als „Prima Ballerina assoluta“ verehrt wurde. Schtschedrin sieht diesen Bearbeitungsprozess der Musik Bizets als „kreativen Geistes-Dialog“. Neben zahlreichen Preisen   erhält Schtschedrin unter anderem den Russischen Staatspreis und den Dmitri-Schostakowitsch-Preis und ist seit 1989 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Mit seiner Bizet-Bearbeitung schafft Schtschedrin ein durchaus modernes Werk, dessen musikalische Elemente vielen Zuhörern bekannt sein dürften. Neben melodisch-klangreichen, neuen Sätzen betont Schtschedrin vor allen die rhythmischen Passagen der Carmen-Motive und setzt dazu klangvolle Röhrenglocken und die hell-trockenen Holzblocktrommeln im Vordergrund ein.

Bei einer Bühne ohne Dekoration und einem leeren Theater hat die Kameraführung nur begrenzte Möglichkeiten der Bildvariation. Doch gelingt es dem technischen Stab wie dem musikalischen Personal, die musikalische Spannung des Konzerts bis zum Schluss zu halten, was zu einem großen Teil der modernen Musik der Komponisten zu danken ist und die Zuhörer freuen wird.

Für den Zuhörer zu Hause mutet es ein wenig seltsam an, wenn die Dirigentin sich  zu Beginn und zum Finale dankend vor einem imaginären Publikum verbeugt. Doch die zugeschalteten Zuhörer erleben einen Konzertabend, der von den üblichen „Russland-Klängen“ originell abweicht und an dem die Magdeburger Sinfoniker einen Musikabend mit viel  Temperament und Spannung präsentieren.

Horst Dichanz