O-Ton

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Liebe, Intrige und Tod

DIE ZAUBERIN
(Pjotr Iljitsch Tschaikowski)

Besuch am
15. März 2019
(Premiere)

 

Opéra national de Lyon

Für ihre Frühjahrsfestspiele hat die Opéra national de Lyon unter dem Titel Leben und Schicksale drei Opern ausgewählt: Die Zauberin von Tschaikowski, Dido und Aeneas, remembered von Henry Purcell und Kalle Kalima sowie Die Heimkehr des Ulysses von Monteverdi. Diese drei Schicksalsdramen, inhaltlich vage mit einander verwandt, aber in verschiedenen Jahrhunderten entstanden und sehr unterschiedlich in Szene gesetzt, sollen die zwiespältigen Beziehungen zwischen Mann und Frau, zwischen Liebe, Hass und Besessenheit, zwischen Leidenschaft und Tod beleuchten.

Das erste Werk dieses Triptychons ist eine sehr selten gehörte Oper Tschaikowskis, Die Zauberin. Sie wurde 1887 in Sankt Peterburg uraufgeführt. Das Libretto erzählt die Geschichte der lebensfreudigen und verführerischen Gastwirtin Nastassia. Alle werben um sie. Auch Fürst Nikita, der Statthalter der Region, macht ihr leidenschaftlich den Hof. Aber sie widersteht ihm. Doch Nastassia hat auch Neider, die sie beseitigen wollen, allen voran der intrigante Hofbeamte Mamyrov. Endlich beschließt Prinz Youri, der Sohn des Statthalters, um die vermeintliche Demütigung seiner Mutter zu rächen, die Hexe, wie man sie nennt, zu töten. Nastassia ist heimlich in Youri verliebt und will sich nicht gegen ihn wehren. Und Youris Mordgedanken verwandeln sich auch bald in heiße, von ihr erwiderte Liebe. Bevor sie jedoch zusammen fliehen können, vergiftet Youris Mutter Nastassia, die in den Armen ihres Geliebten stirbt. Im darauffolgenden Streit wird Youri von seinem Vater erschlagen, während der Fürst vor Verzweiflung und Schuldgefühlen stirbt.

Die Zauberin gilt als die vielleicht volkstümlichste Oper des Komponisten. Tschaikowski war vor allem von der Figur der Nastassia fasziniert. Er hat ihr zwei sehr schöne Arien und als Höhepunkt der Oper das Liebesduett mit Youri gewidmet. Die Oper entstand in der Reifeperiode des Komponisten als ein Vorläufer von Pique Dame. Die Nummernoper ist hier schon ganz aufgegeben, die Musik ist fließend und passt sich ganz der jeweiligen Bühnensituation an.

Doch hatte Tschaikowski Schwierigkeiten mit diesem Werk. Nicht nur weigerte sich der Autor, sein dem Textbuch zugrunde liegendes Theaterstück zu kürzen und zu vereinfachen, um eine fehlende bühnenwirksame Dramatik zu erzeugen und die Hauptcharaktere stärker hervortreten zu lassen, sondern Eros als Überwinder sozialer Unterschiede und das allzu makabre Ende waren nicht akzeptabel für das damalige Publikum. Bei der Uraufführung zollte man daher der Musik höflich Beifall, aber die Oper hielt sich nicht lange auf der Bühne und verschwand dann für lange Zeit in der Versenkung. So ist diese Aufführung in Lyon auch die aller erste Aufführung der Zauberin in Frankreich.

Dieser ungeliebten Oper hat sich nun der ukrainische Regisseur Andriy Zholdak angenommen, und das Resultat ist ein gekonnter, inspirierter, unglaublich einfallsreicher, sehr beweglicher und unterhaltsamer Klamauk. Als das Licht im Zuschauerraum erlischt, sieht man erst mal auf einer Riesenleinwand den Priester von Saint-Bonaventure, einer Kirche ganz in der Nähe des Opernhauses in Lyon, wie er die Kerzen des Hauptaltars auslöscht und die Kirche verlässt. Er nimmt ein Taxi bis zur Oper, man sieht ihn noch die Stiegen zum Haupteingang hinaufsteigen. Dann wird das Video plötzlich Theaterwirklichkeit: derselbe Priester geht nun über die Vorderbühne, setzt sich an einen Tisch vor ein Schachbrett und fängt an, gegen einen Computer Schach zu spielen. Damit beginnt die Oper. Der Ton ist vorgegeben: Man spielt Schach. Es geht um Schicksale, um den König, um die Königin, aber auch um Bauern und Bäuerinnen. Es geht um Wirklichkeiten und um Fantasie, um eine reale und um virtuelle Welt, es geht um Leben und Tod.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Man sagt von Zholdak, seine Ideen und Regieeinfälle seien so zahlreich, dass er immer wieder auf einige verzichten müsse, damit es auf der Bühne nicht zu eng würde. Und das umso mehr, als seine Bühne meist in zwei oder drei verschiebbare Szenenräume geteilt ist – meist Datscha, Kirche und Palast – von denen jeder sein Eigenleben entwickelt.  Ist ein Szenenraum nicht ausgefüllt, so nimmt sofort ein Video-Bildschirm den Platz ein. So muss man dem vielfältigen Geschehen auf der Bühne ständig nachlaufen, wenn man nicht etwas verpassen will. Aus der langatmigen Oper wird ein Aktionsdrama, das mit kraftvoller Intensität wie in einer griechischen Tragödie auf das unabwendbare Ende zuläuft. Das Bühnenbild ist eher alt-russisch, die Kostüme eher modern mit hin und wieder einer schönen alten Volkstracht mit der dazugehörigen expressionistischen Eisenstein-Gestik. Die Requisiten hingegen sind häufig letzter Schrei elektronisch. Auf der Bühne geht es wild zu, es wird gelacht, getanzt, getrunken, geliebt, gestritten, gehasst, brutalisiert, gehurt und vergewaltigt, und das nicht nur im Gasthaus, sondern auch im Palast, sogar in der Kirche. Zholdak biegt die Personen so zurecht, wie er sie sehen will, und seine Personenregie ist sehr genau. Der Fürst ist ein cholerischer, willkürlicher, sexbesessener Tyrann, die Fürstin eine verwöhnte, frustrierte, rachsüchtige Hysterikerin; rein und sich selbst gegenüber treu in diesem Reigen des Lasters und der Haltlosigkeit bleiben eigentlich nur die als verführerische Hexe verrufene Nastassia, die sich schließlich nur dem Mann hingibt, den sie liebt, dem Prinzen Yuri, und der Prinz selbst, der fähig ist die Wahrheit zu erkennen und bereit, trotz   des Standesunterschiedes seine Liebe zu leben. Die völlig neue „Vision“ Zholdaks jedoch betrifft eine Nebenrolle, die des intriganten Hofbeamten Mamyrov. Der Regisseur verwandelt ihn in den schachspielenden Priester, der eingangs zu sehen ist, und gibt ihm mehr oder minder die Hauptrolle. Er ist der böse Geist der ganzen Handlung, eine kuriose Mischung aus einer Art korruptem, skrupellosem KGB-Agenten und einem heuchlerischen Pater Filucius. Er ist allgegenwärtig und doch nicht da, er stellt überall Überwachungsgeräte auf, hängt Spiegel auf, baut Mikrofone ein, sogar in den Kopf der großen Christusstatue in der Kirche. In einigen Szenen geht er mit einer Virtuelle-Realitäts-Brille vor den Augen über die Bühne, als suche er noch nach einer anderen Wirklichkeit, in einer anderen Szene wiederum trägt er einen Teufelsschwanz. Er ist es auch, der die Hand die Fürsten führt, als der seinen Sohn erschlägt. Er ist der böse rote Faden, der sich durch Zholaks Version der Oper zieht und ihr auch eine neue Dynamik verleiht.

Dazu gesellt sich die zahlreiche Schar der Nebenfiguren, meist höchst extravagant ausgestattet, wie die beiden Leibwächterinnen der Nastassia, in schottischem Kilt gekleidet und mit Samurai-Schwertern bewaffnet.

Man sagt, Zhodak lege viel Wert auf seine Arbeit mit jedem einzelnen der Sänger und Sängerinnen, und man merkt, mit welcher Begeisterung sie sich seiner Regie anvertrauen, denn auch der nebensächlichste Darsteller spielt seine Rolle  intensiv, lebendig und wirklichkeitsnah.

Dagegen wird auf den Chor ganz verzichtet, man hört ihn nur hinter den Kulissen.

Musikalisch ist es eine sehr gute Aufführung. Elena Guseva singt die schwierige Rolle der Nastassia nicht warm und sinnlich, sondern verführerisch mit etwas herber, erotischer Stimme. Sehr lebensbejahend im fröhlichen Arioso Wenn man auf die Wolga hinunterblickt im ersten Akt. Auch als Schauspielerin wird sie ihrer Rolle als Männerbetörerin gerecht, dabei hilft es, dass ihre Kostüme von Szene zu Szene eleganter werden. Evez Abdullah singt mit dunklem Bariton den autokratischen, von Leidenschaft besessenen Prinzen Nikita. Ksenia Vyaznikovas dramatischer Mezzosopran ist sehr beeindruckend in der oft furienhaften Rolle der Fürstin und ihr Spiel manchmal furchterregend. Da Tschaikowski ihm keine Arie gewidmet hat, kommt Migran Agadzhanyan schöner, jugendlicher Tenor hauptsächlich in dem langen Duett mit Nastassia Wohin gehst Du denn, Prinz? im dritten Akt zur Geltung. In der von Zhodak ihm zugedachten Rolle als „Geheimdienstler“ kann man über Piotre Micinskis Mamyros nur sagen, er singt gut, aber absolut genial ist seine schauspielerische Leistung als der alles betreibende und hintertreibende Schurke Mamyrov. Sehr zu loben ist ebenfalls das ganze übrige Ensemble. Daniele Rustioni dirigiert das Orchester der Opéra de Lyon und das Ensemble der Sänger durch die dramatisch-romantische Partitur mit jugendlicher Begeisterung.

Als der Dramaturg der Oper, Georges Banu, vor die Presse trat, um die Oper zu erklären, sprach er eigentlich nur – mit glühenden Worten – über die Regie und über den Regisseur. Musik und die musikalische Darbietung wurden kaum erwähnt. Es ist daher nicht abwegig, die Frage zu stellen: Wo bleibt bei aller Begeisterung über die Regie die Musik? Die Antwort ist: Sie ist immer noch da. Die Sänger und Sängerinnen singen, das Orchester säuselt romantisch oder dröhnt dramatisch, wie die Partitur das vorschreibt. Aber sie wird hier fast ein wenig zu einer Begleiterscheinung. Kein Wunder, es gibt ja so viel zu sehen auf der Bühne, da kann man sich auf die Musik kaum noch konzentrieren. Man soll sich ja vielleicht auch hauptsächlich von der Inszenierung beeindrucken lassen? Ist man nicht deswegen gekommen? Und man ist auch entsprechend beeindruckt. Doch in solchen Fällen schreien dann die einen „Genial!“ und die anderen „Skandal!“. Auch hier buhten die einen lautstark, als am Ende der Aufführung der Regisseur auf die Bühne kam, und die anderen klatschten frenetisch. Und beide haben recht, je nach dem was sie sehen oder hören wollten.

Das soll keineswegs heißen, dass es ausgezeichnete, innovative Inszenierungen romantischer, klassischer oder sogar barocker Opern nicht geben kann und gegeben hat. Aber sie erfordern Einfühlungsgabe, Intelligenz und künstlerisches Talent, oft auch Witz und Humor und vor allem ein Gefühl für die Ausgewogenheit zwischen Musik und Theater. Opern, besonders wenn sie wie diese in der romantischen Tradition des 19. Jahrhunderts wurzeln, legen dem Regisseur notwendigerweise Beschränkungen auf. Und bei Inszenierungen, wie diese, so gut sie auch sein mögen, besteht dann immer die Gefahr, dass jene höchst kreativen „Sturm-und-Drang“-Regisseure von ihrem eigenen Schaffen so hingerissen sind, dass sie eigenständige Wege gehen und sich zu sehr vom Musikdrama loslösen, in dessen Dienst ihre Regie steht. In diesem Zusammenhang bemerkte Oriane Jeancourt Galignani kürzlich, in Anspielung auf die moderne Inszenierung ganz anderer Art von Berlioz‘ Les Troyens an der Pariser Oper im Januar 2019:

„Warum die romantische Musik einer derartigen Zerreißprobe aussetzen, wo doch eine zeitgenössische Musik existiert, die in direkter Verbindung mit unserer heutigen Welt steht. Würden wir von Viktor Hugo verlangen, Houllebecq zu sein? Ja, es gibt zeitgenössische Opern, die die Form der Oper ununterbrochen neu bearbeiten. Aber diese stehen nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte. Dabei ist es erstaunlich zu sehen, wie zeitgenössische Komponisten Hand in Hand mit der Literatur, dem Film und den bildenden Künsten arbeiten. Sie machen die Oper zu einem Laboratorium der modernen Welt, ihrer Geräusche und ihrer Abweichungen.“ Sie erwähnt Wolfgang Rihm, Olga Neuwirth, Michael Levinas, und natürlich auch Stockhausen. Und sie hat recht. Stockhausens ganz hervorragend inszenierter Donnerstag aus Licht in der Opéra Comique in Paris im November 2018 ist ein eklatantes Beispiel dafür. Dort waren Musik, Theater, Tanz, Video und was sonst noch, alle in Einklang. Dort hatte der Regisseur alle Freiheiten. Vielleicht sollte sich auch Andriy Zholdak mal für eine solche zeitgenössische Oper interessieren?

Dennoch darf man der Opéra de Lyon dankbar sein, die selten gehörte Oper Tschaikowskis aus der Versenkung hervorgeholt zu haben. Und alle Mitwirkenden haben den Beifall für einen – trotz aller Tragödie – sehr amüsanten Abend mehr als verdient.

Alexander Jordis-Lohausen