O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jean-Louis Fernandez

Aktuelle Aufführungen

Zwischen Illusion und Giftspritze

DER KREIDEKREIS
(Alexander von Zemlinsky)

Besuch am
22. Januar 2018
(Premiere am 19. Januar 2018)

 

Opéra National de Lyon

Die Opéra de Lyon genießt den Ruf als eines der innovativsten Opernhäuser Westeuropas. Ohne das Kernrepertoire zu vernachlässigen, wie in den nächsten Monaten mit einem Verdi-Festival und Mozarts Don Giovanni, ist es Intendant Serge Dorny trotz der von der deutschsprachigen Opernlandschaft recht weit entfernten Lage der südfranzösischen Stadt gelungen, das Interesse deutscher Musikfreunde und Journalisten zu wecken. Mit dem Erfolg, dass Serge Dorny als heißer Favorit für die Nachfolge von Nikolaus Bachler als Intendant der Bayerischen Staatsoper München gehandelt wird. Natürlich unter Vorbehalt des ungewissen Ausgangs der bayerischen Landtagswahlen.

Nach einer beeindruckenden szenischen Umsetzung von Benjamin Brittens War Requiem griff Dorny mit Alexander von Zemlinskys letzter vollendeter Oper Der Kreidekreis in die Raritätenkiste. In Frankreich wird das Stück zum ersten Mal gezeigt und selbst in Deutschland hat sich das Werk noch nicht so richtig durchsetzen können. Wie übrigens, mit Ausnahme der Kurzopern Der Zwerg und Die florentinische Tragödie, auch die anderen großen Opern des Komponisten nicht.

POINTS OF HONOR

Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

1933 entstanden, stand bereits die Uraufführung unter keinem guten Stern. Als Jude konnte Zemlinsky sein Werk in Deutschland nicht aufführen, so dass er es in Zürich aus der Taufe heben musste. Trotz der erfolgreichen Uraufführung ist das Werk für gut 70 Jahre in Vergessenheit geraten. Eine Oper mit Tücken, die auch die überaus ambitionierte Lyoner Produktion nicht übertünchen kann. Probleme, die sowohl den Dirigenten als auch das szenische Team vor heikle Aufgaben stellen.

Das Libretto orientiert sich an dem 1925 mit riesigem Erfolg aufgeführten Schauspiel Der Kreidekreis von Klabund, einer szenischen Nacherzählung eines chinesischen Märchens aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. Brechts heute bekannteres Bühnenstück Der kaukasische Kreidekreis ist erst nach dem Krieg entstanden, lässt aber erkennen, dass Brecht sowohl Klabunds Drama als auch Zemlinkys Oper gekannt hat. Allerdings setzt Brecht andere thematische Schwerpunkte.

Im Mittelpunkt der Handlung steht die tragische Geschichte der 16-jährigen Tschang-Haitang, deren Vater von dem skrupellosen Steuerpächter Ma in den Tod getrieben wird. Eine Tragödie, die die völlig verarmte Mutter veranlasst, ihre Tochter an den Eunuchen und Bordellbesitzer Tong zu verkaufen. Hier kommt es zu einer zarten Liaison mit einem geheimnisvollen Prinzen, doch ausgerechnet Mr Ma, der Mörder ihres Vaters, findet Gefallen an der „Jungfrau“ und kauft sie dem „Bordell-Vater“ ab. Da Tschang-Haitang ihrem neuen Herrn ein Kind schenkt, was der bisherigen „Ersten Frau“ Yü-Pei nicht gelang, steigt Haitang in ihrem Rang auf, sehr zum Unbehagen der zurückgesetzten Yü-Pei.

Foto © Jean-Louis Fernandez

Die ermordet ihren Mann und bezichtigt Haitang der Tat. Und nicht nur das: Sie behauptet, die leibliche Mutter des Kindes zu sein und beschuldigt Haitang des Kindsraubs. Mit bestochenen Zeugen und dem korrupten Richter wird über Haitang das Todesurteil gesprochen. Allerdings wird die Exekution aufgrund des neu geweihten Kaisers außer Kraft gesetzt. Der rollt den Fall persönlich auf und widerlegt mit der bekannten Geschichte um den Kreidekreis die gelogene Mutterschaft Yü-Peis. Haitang erkennt in dem Kaiser ihren Prinzen und wird zur Kaiserin gekürt.

Der Theaterkritiker Alfred Kerr bespöttelte Klabunds Stück als „märchensüß“. Ganz Unrecht hat er nicht. Mit dem überraschenden und völlig irrealen Ende kann sich auch der Regisseur Richard Brunel nicht anfreunden, der die Deus-ex-machina-Gloriole als Illusion umdeutet. Am Ende sieht man, wie der hingerichteten Haitang das Leichentuch über den Kopf gezogen wird. Eine der wenigen konsequenten Entscheidungen des Regisseurs, der ansonsten dem stilistischen Flickenteppich des Stücks ein wenig ratlos gegenübersteht. Märchen, große Oper, Parodie, Revue, Mutterschaftsdrama, Kritik an Frauenausbeutung und Korruption: Es sind viele Themen in vielerlei künstlerischer Ausformung, die Klabund anreißt und die Zemlinsky mit ebenso vielen Stimmen von Kurt Weills Mahagonny-Sachlichkeit bis zur Süße Puccinis und der glühenden Ekstatik eines Richard Strauss anstimmt. Nur die spezifische Handschrift Zemlinskys ist kaum zu erkennen.

Die stilistischen Brüche lassen sich kaum überspielen. Brunel versucht die Quadratur des Kreises, indem er das Stück in eine recht neutrale Bühnenlandschaft von heute ansiedelt, die nur marginale Bezüge zum chinesischen Urstoff herstellt. Weiße, kühle Wände bilden die Kulisse für das zur Karaoke-Bar umgerüstete Bordell. Heimeliger geht es in den Dekorationen von Anouk Dell’Aiera auch nicht in der Wohnung Mr Mas zu. Die emotionale Kälte wird durch Einblendungen von romantisch angehauchten Waldlandschaften nur schwach erwärmt. Und den Schlussakt verlegt Brunel eindeutig in das Hinrichtungszentrum eines amerikanischen Gefängnisses, in dem Haitang letztlich einer Giftspritze zum Opfer fällt. Eine Lösung, mit der Brunel die abstrakte, globale Neutralität der Inszenierung aufgibt.

Ansonsten inszeniert Brunel brav am Text entlang, arbeitet die karikierten Profile der meisten Figuren recht sorgfältig aus und lässt den Hauptdarstellern genügend Freiraum, wenn der trockene Weill-Klang opernhaften Klangräuschen weicht. Das stellt auch hohe Anforderungen an den in Aachen geborenen Dirigenten Lothar Königs, der das Werk bis dahin nicht kannte und sich einem wüsten Stilmix ausgesetzt sieht. Königs favorisiert eindeutig die spätromantisch leuchtenden Sequenzen des Stücks, in denen die inneren Qualen des geschundenen Mädchens jede ironische oder intellektuelle Distanz aufgeben. Die parodierenden Elemente hätten durchaus eine Prise schärfer konturiert werden können. Gleichwohl leitet Königs des Orchestre de l’Opéra de Lyon so umsichtig, dass sich die Sänger mühelos gegen den Orchesterapparat durchsetzen können.

Davon profitiert natürlich am meisten Ilse Eerens als Tschang-Heitang, die mit ihrem ebenso großen wie hellen Sopran die jugendliche Unschuld der Rolle glaubwürdig und rundum überzeugend verkörpern kann. Ihre Kontrahentin Nicola Beller Carbone als Yü-Pei schärft die unsympathische Rolle stimmlich stärker als nötig, beeindruckt aber durch ihre emotionale Kühle. Martin Winkler präsentiert mit seinem mächtigen Bariton den kahlköpfigen Steuerpächter und Mörder Mr Ma mit einer bedrohlichen Größe, als sei er ein Bruder Alberichs. Die Sprechrolle des zynisch-korrupten Richters Tschu-Tschu ist bei Stefan Kurt ebenso gut aufgehoben wie die vielen kleineren Rollen beim Lyoner Ensemble.

Wiederum eine Produktion des französischen Opernhauses, die zur Diskussion einlädt und trotz einiger Schwächen, die zum Teil auf das Stück zurückzuführen sind, das hohe Niveau des Hauses bestätigt. Das Publikum im vollbesetzten Haus quittiert die Leistung mit langanhaltendem Beifall.

Pedro Obiera