O-Ton

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Bilderstürme

AUS EINEM TOTENHAUS
(Leoš Janáček)

Besuch am
21. Januar 2019
(Premiere)

 

Opéra National de Lyon

Fjodor Michailowitsch Dostojewski begann 1856 damit, seine Erfahrungen im Strafgefangenenlager, der Omsker Katorga, niederzuschreiben. Dort lebte er als politischer Strafgefangener von 1950 bis 1954. Die daraus resultierenden Aufzeichnungen aus einem Totenhaus sind kein Roman, sondern werden als Prosaarbeit bezeichnet, weil ein wesentliches Element des Romans fehlt: die Handlung. Dostojewski porträtierte etwa 90 der 150 Gefangenen und Lageraufseher und veröffentlichte das Werk vom Herbst 1861 bis Ende 1862 in seiner Zeitschrift Wremja. 1927 nahm sich Leoš Janáček des Stoffs an, um ihn für seine Oper Aus einem Totenhaus zu verwenden. Die Uraufführung der Oper erlebte Janáček nicht mehr. Er starb im Sommer 1928. Anfang April 1930 wurde das etwa 100-minütige, dreiaktige Werk zum ersten Mal im Nationaltheater Brünn in tschechischer Sprache aufgeführt. Für den internationalen Durchbruch Janáčeks sorgten die Übertragungen ins Deutsche von Max Brod, die sich insbesondere deshalb schwierig gestalteten, weil der Komponist die deutsche Sprache nicht mochte, obwohl er sie einwandfrei sprach, und er seine Musik sehr stark auf die tschechische Sprache ausrichtete.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Insofern macht es Sinn, dass die neue Inszenierung von Krzysztof Warlikowski in tschechischer Sprache aufgeführt wird. Es handelt sich um eine Koproduktion mit dem Royal Opera House in Covent Garden, London, und De Munt in Brüssel, die jetzt zum ersten Mal in Lyon gezeigt wird. Den Bürgern dieser Städte ist es im Großen und Ganzen egal, ob auf Tschechisch oder Deutsch gesungen wird, verstehen sie doch in der Regel beides nicht und sind auf die englischen respektive französischen Übertitel angewiesen. Ein unabänderliches Manko in der Regie von Warlikowski, der ein bildgewaltiges Szenarium entworfen hat. Hier gibt es so viel zu schauen, dass das Mitverfolgen der Übertitel zur Anstrengung wird. Denn der Regisseur versucht, aus einer eigentlich handlungsarmen Oper Aktionstheater zu gestalten. Davon sieht der Zuschauer zunächst einmal nichts. Er blickt auf einen stilisierten Eisernen Vorhang, der gleichzeitig die Außenmauer des Strafgefangenenlagers und Projektionsfläche für die von Denis Guéguin bearbeiteten Videos darstellt. Die Videos, die vor und zwischen den Akten gezeigt werden, sind Interview-Ausschnitte aus gegenwärtigen Dokumentationsfilmen, die wohl in erster Linie die Aktualität des Geschehens auf der Bühne heraufbeschwören wollen. Da lässt sich Michel Foucault über die Abhängigkeiten von Justiz und Polizei aus, später kommt ein Straftäter zu Wort, der sich über Sinn und Wert des Sterbens in der alltäglichen Auseinandersetzung äußert. Ob die Oper einen solchen Aktualitätsbezug braucht oder der sich aus dem Werk ergibt, kann man diskutieren. Aber es sieht modern aus. Und Modernität scheint Warlikowski wichtig. Da wird beispielsweise auf dem Hof des Gefangenenlagers Basketball gespielt, eine Beschäftigung, die man in Omsk sicher so nicht kannte. Ebenso wenig wie die HipHop-Tänzer, die hier auf der Bühne für Bewegung sorgen. Der Monitor, der Fußballübertragungen, später Bilderschauen der Dirne zeigt. Sind das Bilder aus dem modernen Strafgefangenenvollzug? Oder sind es Bilder davon, wie sich ein Regisseur eine moderne Vollzugsanstalt vorstellt? Letztlich ist es eine Vielzahl von kleinen, schnell wechselnden Eindrücken, die eine wahre Bilderflut herstellen.

Ein Panoptikum von Einfällen, bei denen man erst rückblickend feststellt, dass es nichts schadet, wenn einem das eine oder andere entgeht. Entscheidend ist das Grundgerüst der Bühne, und da hat Malgorzata Szczęśniak saubere Arbeit abgeliefert. Rechts ist eine kleine Tribüne angeordnet. Mittig ist der Hof angeordnet, der im Hintergrund von einer gekälkten Backsteinmauer begrenzt ist, über der sich eine Galerie befindet. Der Clou ist ein Kubus, der von links hereingefahren wird und drehbar ist. Damit wird eine Bühne auf der Bühne geschaffen, die Raum für das Büro des Direktors wie für die Bühne der Laiendarsteller gibt. Das ist durchdacht und schafft klare Strukturen, die nicht im Widerspruch zu den naturalistischen Orten stehen, die Janáček vorgibt. Einen Vaudeville-Anklang gibt es bei den Kostümen von Szczęśniak vor allem, wenn es um die Laienspielschar geht, die im Zentrum der Oper steht. Felice Ross hat die Bühne sorgsam, aber ohne große Überraschungseffekte ausgeleuchtet.

In der Personenführung glänzt Warlikowski in allen Kriterien. Raumaufteilung, Bewegung, Interaktion und Kommunikation gehen bei einer höchst personalintensiven Oper in die Nähe der Perfektion. Dass der Adler hier nicht die metaphorisch überhöhte Rolle spielt, die ihm Janáček zugedacht hat, passt zum „Verismo“ Warlikowskis, der sich auf einige gespielte Flügelschläge beschränkt, die Nicky Spence zu vollziehen hat. Der beeindruckt als großer Sträfling, so der Name der Rolle, in jeder Hinsicht. Mit seiner Körperfülle absolviert er eine Beweglichkeit, die absolut beeindruckt. Um es plastisch auszudrücken, und zwar im Sinne eines Kompliments: Mit mehr als hundert Kilogramm tanzt er wie ein Schmetterling und singt wie eine Elfe. Und es braucht keiner zu glauben, dass ihm das mehr als den üblichen Schweiß auf die Stirne triebe. Vollkommen durchtrainiert. Complimenti. Auch die übrigen Rollen sind durchgängig großartig besetzt. Wobei sich die Stimmen in Unkenntnis des Tschechischen fairerweise einer Beurteilung entziehen. Aber es gibt bei den bekannt schwierigen Tonlagen des Werks keine Stelle, an der man zusammenzuckt oder Misstöne zu entdecken glaubt, sondern der Genuss ist durchgängig. Auch darstellerisch überzeugen Darsteller wie Tänzer. Für letztere hat Claude Bardouil eine Choreografie entwickelt, die bis zu den Basketballwürfen überzeugen. Und der Chor in der Einstudierung von Christoph Heil unterstützt das Geschehen darstellerisch wie musikalisch wirkungsvoll.

Aus einem Totenhaus gehört sicher zu den Opern, deren höchste Anforderung in der Balance zwischen Bühne und Graben liegt. Ein Dirigent, der nur laut kann, hat hier mit Sicherheit verloren. Mit Alejo Pérez steht allerdings ein Mann am Pult, der mit großer Geste das Orchester im besten Sinne klein halten kann, das im Graben ganz nach unten gefahren ist. Transparent klingen die feinen Passagen durch, nie werden die Sänger überdeckt, selbst dann nicht, wenn die expressionistischen Äußerungen Janáčeks mal nach Dramatik verlangen. Und diese Akzente herauszuarbeiten, ist ein ganz großer Verdienst des Dirigenten. Wer hier nicht mit dem nötigen Gespür arbeitet, hat schnell einförmigen Klangmatsch produziert. In Lyon hört man mit Unterstützung des Orchesters eine Musik, die glänzt.

Warlikowski hat einen Abend inszeniert, den die Sinne bei einem einmaligen Besuch sicherlich nicht ganz erfassen können; der aber spannend, aufregend, mit spritzigen Einfällen und nur manchmal knapp an der Langeweile vorbeizieht. Das ist bei diesem schwierigen Werk, das bis heute Besucher polarisiert, eine große Leistung. Dass ihm Pérez mit seinem Team im Graben so wunderbar zuarbeitet, erweist sich als Glücksfall.

Das sieht das Publikum, das trotz des sperrigen Werks in Scharen herbeigeeilt ist, genauso. Der Applaus kennt keine Grenzen, bis die Lichtregie beschließt, ihn zu beenden. Einen Wermutstropfen gibt es zum Schluss. Krzysztof Warlikowski betritt die Bühne, auf der die Menschen ihn feiern wollen, als sei er von tiefsten Depressionen befallen. Es gibt so wenig wirklich gute Inszenierungen, da darf man sich als Regisseur, wenn einem denn mal eine gelungen ist, auch wirklich fröhlich feiern lassen und muss nicht noch das Leid aller Strafgefangenen dieser Welt im Gesicht tragen. Wie schön, dass sich wenigstens das Team auch bei der dritten Premiere noch so richtig freuen kann.

Michael S. Zerban