Kulturmagazin mit Charakter
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In gewisser Weise könnte das Werk für diese erste Premiere nach der Corona-bedingten Schließung des Hauses in Lübeck besser nicht gewählt sein. Denn gespenstisch ist die Situation, wenn man nur mit negativem Testergebnis, nach ausführlichen schriftlichen Erklärungen, Personalausweiskontrolle und so weiter sowie der obligaten Maske in einem vorschriftsmäßig spärlich besetzten Haus einer Oper lauscht. Einer Kunstform, die in ihrem Wesen die Kommunikation mit Ihren Zuhörern intensiv sucht, die sich unter den aktuellen Umständen im Zuschauerraum selbst wie Gespenster fühlen müssen.
Der 1936 in Berlin geborene deutsche Komponist Aribert Reimann gehört heute zu den am meisten beachteten und vielfach ausgezeichneten zeitgenössischen Komponisten und kann auf ein umfangreiches Schaffen in verschiedensten Genres zurückblicken. Dazu gehört unter anderem die Liedkunst, in der er sich schon früh zu einem geschätzten Begleiter namhafter Sänger entwickelt hat. Insbesondere Dietrich Fischer-Dieskau war über eine lange Zeit künstlerischer Wegbegleiter und hat Reimann entscheidende Anregungen für neue Werke gegeben, nicht zuletzt für seine Oper Lear.
In Die Gespenstersonate verarbeitet Reimann die Eindrücke aus der Begegnung mit dem Werk August Strindbergs, das ihm bei einem Aufenthalt in Schweden in jungen Jahren nahegekommen ist. Es ist nicht die einzige Auseinandersetzung Reimanns mit Strindberg, denn es existiert auch noch die Oper Ein Traumspiel aus dem Jahr 1965.
Foto © Olaf Malzahn
Auch viele andere Komponisten sind durch Strindbergs Werke angeregt worden. In Schweden zählt man nicht weniger als 140 Liedkompositionen, aber auch künstlerische Verarbeitungen in ganz anderen Genres wie zum Beispiel Musicals und Popsongs. In Schweden hat man Strindberg auch durchaus nicht immer nur düster-bedrückend wahrgenommen, sondern auch die krass-satirischen, ja mitunter komischen Elemente reflektiert, und sei es eine Höllenkomik. Genauso geht Reimann auch mit der Gespenstersonate um.
In Die Gespenstersonate trifft sich in einem erstarrten Ritual eine Gesellschaft des Schweigens. Jahrzehnte zurückliegende Verletzungen, Erniedrigungen und unendlich tiefe Demütigungen prägen das Verhältnis der Personen untereinander, sie sind zu Gespenstern geworden. Der Versuch eines jungen, unschuldigen Außenseiters, die Wahrheit anzusprechen und Kommunikation und Welt zu öffnen, scheitert. Der junge Student schließlich „… weiß, dass die Welt einstürzen würde, wenn man wirklich aufrichtig wäre.“ So wird er selbst in die Welt des Schweigens und der Sprachlosigkeit gezogen. Es bleibt der moralische Appell an die Menschheit, den Teufelskreis aufzubrechen, denn eine Gesellschaft, die ihre Schuld nicht ausspricht und aufarbeitet, muss zerbrechen. Eine solche Gesellschaft wird in ihrer Vergiftung erstarren und kein lebenswertes Miteinander ermöglichen.
Regisseur Julian Pölsler zusammen mit seinem Ausstatter Roy Spahn nimmt sich der skurrilen Charaktere und Handlung in einer Gratwanderung zwischen bitterböser Dramatik und krasser Komik an, die entlang der Musiksprache Reimanns entwickelt ist. Die Handlungselemente werden in großer Klarheit entwickelt. Die Personen werden in eindeutigen, teilweise überzeichneten Kostümen und Masken präsentiert. Die Handlung wird aber nicht verfremdet. Die Verfremdung findet in der Musiksprache der Partitur statt. Reimann arbeitet mit Flageoletts und Clusterformaten bei Streichern und schrill betonten Bläserfiguren. So bilden Szene und Kammerorchester eine in der Wirkung bedrückende Einheit.
Mit Otto Katzameier als der Alte, Direktor Hummel, dem ewigen Strippenzieher des Bösen, hat die Aufführung ein schwergewichtiges Zentrum. Hummel ist äußerlich an einen Rollstuhl gefesselt. Von dort streitet, demütigt, erniedrigt er. Seine persönliche Gebrechlichkeit behindert die anderen Personen. Die physische Behinderung erscheint zunehmend gleichzeitig wie die psychische Verkrüppelung, der er selbst aus der lebenslangen Schuld seiner Taten nicht entgehen kann. Katzameier meistert diesen bedrückenden Part, um den letztlich alle anderen Menschen seines vergangenen Lebens kreisen, mit Dämonie und klug austarierter stimmlicher Präsenz. Das bei Reimann so bedeutsame Wechselspiel zwischen hochexpressiver Gesangsmelodie und Sprechgesang gelingt grandios.
Foto © Olaf Malzahn
Den Studenten Arkenholz und das Fräulein geben Yoonki Baek und Andrea Stadel eindrucksvoll als das junge Paar, um das sich eigentlich die Hoffnung auf die Zukunft bauen sollte, die jedoch in den Verstrickungen der gesellschaftlichen Umstände untergehen. Hier gibt es keine Hoffnung durch die Jugend.
Wolfgang Schwaninger als Oberst erschüttert stimmlich und darstellerisch – letzteres sprichwörtlich bis auf die Unterhosen entkleidet – als unendlich gedemütigtes, altes Opfer Hummels.
Die Mumie von Karin Goltz vermittelt schließlich wirkmächtig Appell, Anklage und Zerstörung des Verbrechers Hummel.
Daniel Schliewa als junger Diener Johansson und Steffen Kubach als erfahrener Diener Bengtsson geben wirkungsvoll und überzeugend die kommentierenden Angestellten des Geisterhauses.
Milena Juhl gibt die dunkle Dame und Julia Grote besticht mit einem hinreißend skurrilen Auftritt als Köchin des Gespensterhauses.
So textverständlich die Sänger auch agieren, ist man doch für die deutschen Übertitel der deutsch gesungenen Texte dankbar, die ein unmittelbar tieferes Verständnis der Zusammenhänge erlauben.
Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck unter Andreas Wolf spielt in einer speziellen Kammerbesetzung mit verschiedenen Bläsern, vier Streichern sowie Harfe, präpariertem Klavier und Harmonium. Die Klangtechnik der Partitur bewirkt eine irreale und unwirkliche Atmosphäre, die die reale Szene mehr und mehr als Lügenwelt entlarvt. Wolf stellt über die gesamte Vorstellung eine exzellente Balance zwischen den hochengagierten Orchestermusikern und den Sängern mit all ihren intrikaten Aufgaben sicher. Erst in diesem hoch-intensiven, bezwingenden Miteinander kommt die künstlerische Botschaft so erfolgreich über die Rampe.
Das spärlich über die Plätze verteilte Publikum leistet schließlich seinen eigenen Beitrag mit begeistertem Applaus und Bravo-Rufen, der Zuspruch ist begeistert und lang, neben der Hochachtung für die Künstler kommt das Wiedererleben des Erlebnisses Theater nach so langer Zeit zum Ausdruck sowie die Hoffnung, dass alsbald auch die Hygienebeschränkungen weiter gelockert werden können und ein wieder unbeschwertes Opernereignis möglich wird.
Achim Dombrowski