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Aktuelle Aufführungen

Die Gegenwart in einer Stunde

ROOMS
(Jo Strømgren)

Gesehen am
10. April 2021
(Premiere am 8. April 2021/Live-Stream)

 

Rambert Dance Company, Rambert’s Building, London

In Deutschland ist es ja derzeit en vogue, Sprachkonventionen zu missachten. Tanz Köln gibt ein weiteres Beispiel dafür, wie unsinnig solche Versuche sind. Wenn ein Haus zu einem Gastspiel einlädt, war bis zu diesem Tag klar, was gemeint ist. Am konkreten Beispiel bedeutet es, dass ein Ensemble von irgendwoher anreist, um auf der Kölner Bühne eine Aufführung zu zeigen. Daran ändert sich auch nichts, wenn die Aufführung im Internet gezeigt wird. Nun hat also Tanz Köln zum Gastspiel der Rambert Dance Company eingeladen. Das Erstaunen ist groß, dass es derzeit möglich ist, dass eine ganze Tänzergruppe von London nach Köln reist. Und es stimmt ja auch nicht. Im Gegenteil geht Rambert mit seinen Tänzern allerhöchst verantwortungsvoll um, um nur ja keine Infektion zu riskieren. Da ist die allerletzte Maßnahme, auch nur einen Tänzer in ein Flugzeug zu setzen. Kurzum: Es gibt kein Gastspiel. Sondern Tanz Köln ist die deutsche Ticketvorverkaufsstelle für eine Aufführung, die aus London live im Internet gezeigt wird. Daran ist auch nichts Ehrenrühriges. Im Gegenteil, wenn Tanz Köln auf die großartige Aufführung einer international renommierten Compagnie hinweist und dafür in Deutschland den Ticketverkauf übernimmt, ist das ein netter Service. Und auf gar keinen Fall ein Grund, das eigene Publikum hinters Licht zu führen.

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Tatsächlich geht Rambert neue Wege und hat einen Live-Tanztheaterfilm für das Internet entwickelt. Der Aufwand dafür ist gewaltig. Bis ins Detail ist hier alles organisiert. Dass eine Tanzcompagnie das bewältigt, erzeugt Respekt. Für Rooms hat Benoit Swan Pouffer, Künstlerischer Leiter des Ensembles, den Choreografen Jo Strømgren gewinnen können, der selbst schon zahlreiche Drehbücher verfasst hat. Und Strømgren hat nichts Geringeres vor, als die Gesellschaft der Gegenwart in all ihrer Vielfalt darzustellen. Der visual key, also der visuelle Schlüsselreiz, der für das Ereignis wirbt, ist hervorragend gewählt. Da wird die Außenfassade eines Hochhauses gezeigt. So bunt und unterschiedlich, wie die einzelnen Balkone und Fenster der Wohnungen sind, soll auch das Tanztheater werden. Die Bühne ist in drei Räume aufgeteilt, in denen das Leben tobt. Farbenfroh mit ungeahnten Wendungen, jonglierend zwischen aktuellen Themen wie Religion, Sexualität, Diversität, Überwachung, fehlender Kultur, Eifersucht und all das, was im Gemenge noch untergeht. In die Modernität hinein mischen sich immer wieder alte Traditionen, Gebräuche und Tänze. Die Brillen, die für eine virtuelle Realität notwendig sind, befremden ebenso wie der Tanz ultraorthodoxer Juden.

Und plötzlich landet das Leben in einer Sackgasse. Hinter der letzten Tür die unüberwindliche Mauer. Davor der Strick, der die scheinbare Lösung bietet. Und das Leben läuft ein letztes Mal vor dem inneren Auge vulgo vor den Fensterscheiben, also unerreichbar ab. Richard Wagner steuert dazu Siegfrieds Trauermarsch bei. Und setzt dem bunten musikalischen Treiben aus der Konserve, das von Glenn Miller über Monteverdi, landestypische Klänge bis zu modernen Sounds reichte. Alles vorbei. Die folkloristischen bis futuristischen Kostüme: überflüssig. Das Glücksspiel des Lebens ist nach einer Stunde vorüber. Aber dem Zuschauer ist nicht nach Trauer oder Traurigkeit. Schließlich hat er in dieser Zeit alles erlebt, was an Freude, Fröhlichkeit und Fantasie, aber auch unerfreulichen Dingen wie Eifersucht und Gewalt in der Ehe denkbar ist. Er ist hin- und hergeworfen zwischen Spiel- und Tanzszenen, wobei es von den Tanzszenen ruhig ein bisschen mehr gegeben haben dürfte, halten sich die humoristischen Versuche doch eher in erträglichen Grenzen.

Die drei Räume begrenzen die Bühne über Gebühr. Und so gut der Einfall ist, so sehr begrenzt er auch das Bühnengeschehen. Die Choreografien bemessen sich auf engstem Raum, und der Kamera wünschte man an vielen Stellen mehr Weitwinkel, weil die Handlung doch arg „aus dem Rahmen“ fällt. Das ändert an der großartigen Idee ebenso wenig wie die üblichen Schwierigkeiten einer Live-Übertragung. Ärgerlich schon, dass Bühnenmenschen nicht lernfähig zu sein scheinen. Das Zauberwort „live“ bewirkt bei einer Internetübertragung überhaupt nichts außer technischen Ausfällen. Und das kann man sich seit über einem Jahr jeden Tag anschauen.

Insgesamt aber zeigt Rambert, dass Tanztheater im Internet keine Schande oder gar ein Verlust ist, sondern die einzige Alternative zum Auftrittsverbot in der Öffentlichkeit. Die 16 Tänzer aus vielen Nationen können bei entsprechender Choreografie und den richtigen Rahmenbedingungen am Monitor respektive Bildschirm ebenso fesseln wie auf der Bühne vor dem gemieteten Sessel. Und das nehmen sie mit einer Spiel- und Tanzfreude in Angriff, die viel Freude bereitet. Freude ist etwas, was wir gerade sehr gut gebrauchen können.

Michael S. Zerban