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Aus der Schablone gefallen

LIEBESBRIEFE
(Mei Hong Lin)

Gesehen am
7. April 2021
(Premiere am 13. März 2021/Stream)

 

Landestheater Linz

Tanzaufführungen sind selten geworden im zurückliegenden Jahr. Vor allem die Ballett-Compagnien großer Häuser haben sich sehr zurückgehalten. Vielleicht hatten sie besonders mit Abstandsproblemen zu kämpfen, vielleicht war die fehlende Nähe zum Internet besonders ausgeprägt. Nichts Genaues weiß man nicht. Umso erfreulicher, dass sich jetzt die Tanz-Compagnie des österreichischen Landestheaters Linz mit einem abendfüllenden Stück zurückmeldet. Tanzdirektorin Mei Hong Lin hat ihre neue Choreografie Liebesbriefe genannt. Das klingt nicht wirklich modern, und da könnte mancher Angst haben, dass der Titel nicht zugkräftig genug ist. Aber sie legt noch einen drauf. Denn das Stück verhandelt die Erfahrungen der Tänzer in der Corona-Krise. Ach, bitte nicht schon wieder Corona, mögen da viele denken, die gerade selbst in dieser Situation feststecken. Ist ja schön, wenn zeitgenössischer Tanz sich auch mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt. Aber seit Monaten kämpfen wir gegen die soziale Vereinsamung, während kaum eine Stunde des Tages vergeht, in der wir nicht einer permanenten Angstkulisse ausgesetzt werden. Soll also der Tanz trösten? Nein. Wohl eher Mut machen, sich kreativ mit dieser neuen Erfahrung zu befassen.

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Und da passen dann die Liebesbriefe der Choreografin wieder. Denn Liebesbriefe ergeben in der Regel keine Handlung, wenn man von Werken wie Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf absieht. Lin will typische Situationen sinnlich-abstrakt erfahrbar machen, will Emotionen versprühen. Und das gelingt ihr mehr als eine Stunde lang, mal lebhaft, mal fantasievoll, mal überbordend, aber auch zurückgenommen bis hin zu akrobatischen Leistungen. Ja, so müssen Liebesbriefe sein. Sprühend, quirlig und wie sich das in der ersten Verliebtheit gehört, ohne eine Pause erkennbar werden zu lassen. Fabelhaft.

Ihr künstlerischer Wegbegleiter ist seit einem Jahrzehnt Dirk Hofacker, der für Kostüme und Bühne verantwortlich zeichnet. In den Liebesbriefen gelingt ihm ein Coup. Als bewegliche Bühnenelemente hat er Schablonen anfertigen lassen, aus denen die Tänzer heraustreten, um sich zu entwickeln, ihre kleinen Geschichten und großen Gefühle zu zeigen. Was in der Theorie plakativ klingt, ist in der Umsetzung großartig gelöst. Ob es die Klopapier-Rollen wirklich gebraucht hätte, kann man diskutieren, aber bitte, so viel Komik darf es dann sein. Den Ausgleich gibt es auf Kostümebene. Hofacker wählt zunächst recht einfache Trikots, vielfach hautfarben. Auf dieser Basis werden die Tänzer je nach Bedarf mit aussagekräftigen bis skurrilen Accessoires ausgestattet. Beim Maskenauftritt explodiert die Fantasie förmlich. Und wenn es zum Ende hin ruhiger wird, sorgt der Kostümbildner noch einmal mit einem besonderen Einfall für einen gelungenen Abschluss. Johann Hofbauer sorgt dafür, dass auch im Stream alles im rechten Licht erscheint.

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Die dreizehn Tänzer haben an der Entwicklung der Choreografie mitgewirkt. Das führt zu einem überdurchschnittlichen Einsatz. Wann sieht man schon einmal einen Tänzer, der sich mit Sprüngen auf den Knien fortbewegt? Das ist selbstzerstörerisch, wie jeder Tänzer weiß, egal, wie fantastisch es aussieht. Und glücklicherweise gelingt es dem Ensemble ansonsten auch, eine Bewegungssprache zu zeigen, die sich nicht nur durch Fantasie, Geschwindigkeit und Einfallsreichtum auszeichnet, sondern auch die Leistungen des einzelnen gebührend würdigt. Kleinere Soli in den Ensemble-Auftritten treten dabei ebenso hervor wie zwei ungewöhnliche Pas de deux und ein wirklich gelungenes Solo, dass man in seinen überraschenden Wendungen so nicht alle Tage erlebt. Als Besonderheit gibt es einen Ausflug ins Zirzensische, wenn Shao-Yang Hsieh zeigt, was mit einem Reifen – ja, schon nahezu mit poetischer Ausstrahlung – alles möglich ist.

Einen kleinen Dämpfer gibt es bei der Musik, die sehr gekonnt aus Stücken von Nelson Freire, Chilly Gonzales, Frank Ifield, Eleni Karaindrou, Kolsimcha, Kronos Quartet, Boris Kovac, Mother Earth Sounds, Lukas Lauermann, 1721 Project, Matthieu Saglio, Dmitri Shostakovich und Heitor Villa-Lobos zusammengesetzt ist. Es hätte allerdings vermutlich nichts dagegen gesprochen, sie live einzuspielen und damit möglicherweise auch einen besseren Klang zu erreichen.

Tanz zu filmen, gehört wahrscheinlich zum Anspruchsvollsten, was Film leisten kann. Zahlreiche Videos im Internet legen Zeugnis davon ab, wie es nicht gelingt. In Linz wurde die Generalprobe aufgenommen, es gab also nur den einen Durchlauf. Ein Risiko, das im Großen und Ganzen gelungen ist, wenn man einmal davon absieht, dass hin und wieder die Tänzer der Kamera enteilen, weil sie einfach zu schnell werden. Unverständlich, dass in der ansonsten doch anständigen Dokumentation inklusive ordentlichem Programmheft nicht erwähnt wird, wer für Kameraführung und Bildregie zuständig ist. So viel zur Wertschätzung im Theater abseits eingefahrener Bahnen. Dabei haben diese Leute ganze Arbeit geleistet. Sie haben nämlich die Aufführung so aufregend eingefangen, ohne einen Tanzfilm zu gestalten, dass der Zuschauer gebannt vor dem Monitor sitzenbleibt. Wer sich davon selbst überzeugen will, kann das noch bis zum 10. April tun.

Michael S. Zerban