O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jonathan Berger

Aktuelle Aufführungen

Seichtes Dreiecksdrama

MIGNON
(Ambroise Thomas)

Besuch am
1. April 2022
(Premiere)

 

Opéra Royal de Wallonie, Liège

Anders als ihre deutschen Kollegen hatten französische Opernkomponisten nie Berührungsängste mit Stoffen des ehrwürdigen Geheimrats Goethe. Das Lütticher Opernhaus zeigt derzeit die selten aufgeführte Oper Mignon von Ambroise Thomas nach einer Episode aus Goethes Wilhelm-Meister-Dichtung.

Dass es Thomas‘ Adaption nicht zum nachhaltigen Erfolg der Goethe-Vertonungen von Berlioz, Gounod mit Faust oder Massenet mit Werther bringen konnte, hat seine Gründe. Aus der Geschichte um die entwurzelte Kindfrau Mignon, die mit Hilfe Wilhelm Meisters nach etlichen Abenteuern und Intrigen einer Rivalin endlich ihren Vater wiederfinden und Wilhelm Meister in ihre Arme schließen kann, schmiedeten die damaligen Star-Librettisten Jules Barbier und Michel Carré, die auch Hoffmanns Erzählungen schrieben, zwar ein effektvolles Dreiecks-Drama. Aber der Musik von Thomas fehlt es, trotz manchen Ohrwurms, an der nötigen melodischen und dramatischen Substanz, um einen mehr als dreistündigen Opernabend unter Spannung halten zu können. Sentimentaler Süßstoff verbindet sich mit allzu schlichtem Liedgut zu einer Melange, die auch das Lütticher Team trotz großen Einsatzes und Aufwands nur langsam in Schwung bringen kann. Zu stark werden die inneren Konflikte Mignons von komischem und kokettem Beifang überlagert, so dass Stéphanie D’Oustrac in der Titelrolle ihre hörenswerten lyrischen Qualitäten erst nach der Pause voll ausspielen kann. Vorher stiehlt ihr ihre Widersacherin Philine mit ihren akrobatischen Koloraturen die Schau, interpretiert von der nicht weniger überragenden Sopranistin Jodie Devos.

Foto © Jonathan Berger

Um den seichten Beigeschmack zu mildern, versetzt Regisseur Vincent Boussard die Handlung in eine irreale Traumwelt, ausgestattet mit teils historischen Kostümen der Goethe-Zeit, teils karnevalesk fantasieartigen Gewändern und einer dunklen, von einem Bilderrahmen eingegrenzten Dekoration im Umfeld einer Bühne, Künstlergarderobe und den Zuschauerraum eines Opernhauses. Insgesamt eine recht unkonkrete Deutung. Verantwortlich für die Kostüme ist Clara Pelufo Valentini und für die Bühnenbilder Vincent Lemaire.

Im Mittelpunkt der Inszenierung steht ohnehin der Konflikt zwischen Mignon und ihrer Rivalin Philine, den Boussard recht deutlich zum Ausdruck bringt. Auch wenn er sich dabei nicht unbedingt auf die Schlagkraft von Thomas‘ Musik verlassen kann. Der bringt Frédéric Chaslin am Pult des Lütticher Orchesters mit teilweise zähen Tempi nur schwache dynamische Akzente entgegen. Damit wird Philippe Talbot als Wilhelm Meister mit seinem kultivierten Tenor gegenüber der Frauenübermacht noch stärker an den Rand gedrückt. Zu den vokalen Glanzlichtern der Produktion gehört der Bassist Jean Teitgen in der Rolle des „Harfners“ Lothario.

Das Publikum reagiert dankbar auf diese Begegnung mit einer Rarität, die nicht ganz zu Unrecht ein wenig in Vergessenheit geraten ist.

Pedro Obiera