O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Lorraine Wauters

Aktuelle Aufführungen

Don Carlos aus dem Bilderbuch

DON CARLOS
(Giuseppe Verdi)

Besuch am
30. Januar 2020
(Premiere)

 

Opéra Royal de Wallonie, Liège

Einen gewaltigen Kraftakt stemmt die Lütticher Oper derzeit mit der Urfassung von Giuseppe Verdis Schiller-Oper Don Carlos. Die für Paris komponierte Version in französischer Sprache und fünf Akten beansprucht selbst ohne Ballett-Einlage eine reine Spieldauer von über vier Stunden. Dadurch wird zwar manches Detail tiefer beleuchtet, aber der theatererfahrene Komponist entschloss sich schon im Umfeld der Uraufführung, das Werk rigoros zurechtzustutzen. Das Ergebnis schlägt sich letztlich in sieben Fassungen, auf die unsere Theater heute zurückgreifen können. Die 1867 aus der Taufe gehobene Pariser Urfassung verlangt den Sängern, aber auch dem Publikum die größte Kondition ab und Lüttichs Intendant Stefano Mazzonis di Pralafera konnte dieses Wagnis nur mit einem erstklassigen Ensemble eingehen. Und das gelang ihm auch diesmal mit bekannten Namen wie Ildebrando d’Arcangelo als Philippe II., Lionel Lhote als Posa und Roberto Scandiuzzi als Großinquisitor, dessen Rolle in der Pariser Version deutlich aufgewertet ist. Alle drei stellvertretend für das gesamte Ensemble genannten Sänger verleihen ihren Rollen mit ihren großen Stimmen und ihrer Bühnenpräsenz eindrucksvolle Profile und stehen den Marathon am Premierentag auch kräftemäßig vorbildlich durch.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Allerdings schlägt Maestro Paolo Arrivabeni mit dem Lütticher Orchester so massive Töne und teilweise so forsche Tempi an, dass alle ihre Stimmen bisweilen forcieren müssen. Noch stärker als die Bassisten betroffen ist davon der Tenor Gregory Kunde in der unbequemen Titelpartie. Allerdings bewegen sich derartige Einschränkungen auf einem insgesamt sehr hohen vokalen Niveau.

Foto © Lorraine Wauters

Yolanda Auyanet als Elisabeth ist stimmlich am Premierenabend nicht in Top-Form, lässt aber erkennen, dass sie in den Folgeaufführungen die dramatischen und lyrischen Akzente der Partie perfekt zum Klingen bringen dürfte. Für die gegenüber den oft gespielten Fassungen deutlich umfangreicher angelegte Partie der Eboli findet Mazzonis in Kate Aldrich eine glänzende Interpretin ohne konditionelle Grenzen. Damit bewältigt sie nicht nur die gefürchtete Bravour-Arie, sondern auch das ausgedehnte Duett mit Elisabeth, das Verdi in der Pariser Fassung der Arie vorgeschaltet hat. Ein musikalisch kostbares Duett, das allerdings den dramaturgischen Elan hemmt und von Verdi in den folgenden Fassungen unberücksichtigt blieb. Ebenso wie die umfangreiche Chor-Szene im Finale, in der Verdi eine Melodie in den Mittelpunkt stellt, die er später im Requiem verwendete.

Als Problem erweist sich der erste Akt, der in seiner umständlichen Ausführlichkeit dem Beginn des Dramas um das Schicksal Elisabeths und des Infanten einiges an dramatischer Schlagkraft und Schockwirkung nimmt. Gleichwohl nimmt man manche Längen der Version gern in Kauf, wenn eine Parade erstklassiger Bassisten wie Ildebrando D’Arcangelo, Lionel Lhote und Roberto Scandiuzzi nicht nur die Höhepunkte des Werks blutvoll und sonor erklingen lässt.

Vokal bleibt die Lütticher Oper ihren hohen Ansprüchen also treu. Und der Intendant seinem musealen Regie-Konzept ebenso. Zu sehen ist ein Don Carlos wie aus einem historischen Bilderbuch. Mit üppigen Kostümen und aufwändigen Dekorationen von Fernand Ruiz und Gary Mc Cann, in den Massenszenen, etwa dem Autodafé, mit wirkungsvollen, aber recht plakativen Show-Einlagen inklusive Fahnenschwenkern und allerlei Soldateska. Mazzonis orientiert sich streng am Libretto, so dass wir den Großinquisitor tatsächlich als blinden, sich auf zwei Knaben stützenden Greis erleben können und nicht, wie so oft, als Geheimagent mit Aktenköfferchen. Dass die grandiose Auseinandersetzung zwischen dem Inquisitor und König Philippe auch diesmal unter die Haut geht, ist allerdings weniger der zurückhaltenden Personenführung des Regisseurs zu verdanken, sondern vielmehr dem Charisma und der vokalen Qualität der Sänger, die, wie auch ihre Kollegen, intuitiv und damit auch meist richtig agieren. Da Mazzonis ihnen ohnehin keine akrobatischen Leistungen abverlangt, können sie ihre Kräfte vorteilhaft einteilen.

Wiederum ein vokale Großtat der Lütticher Oper in eindrucksvollen, wenn auch etwas altbackenen Bildern. Und eine ebenso lohnende wie in unserer Region seltene Begegnung mit der Ur-Version einer der ganz großen Verdi-Opern.

Pedro Obiera