O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Lorraine Wauters

Aktuelle Aufführungen

Eindrucksvolle Stimmen

LA BOHÈME
(Giacomo Puccini)

Besuch am
23. September 2020
(Premiere am 20. September 2020)

 

Opéra Royal de Wallonie, Liège

Seine Freude über den 200. Geburtstag der Opéra Royal de Wallonie lässt sich Intendant Stefano Mazzonis di Pralafera auch von der Corona-Krise nicht verhageln. Er bietet in der angelaufenen Saison ganz „Große Oper“ in entsprechend großer Besetzung, wovon seine deutschen Kollegen zurzeit nur träumen können. Dass er es damit ernst meint, zeigt bereits die Eröffnung mit Giacomo Puccinis Oper La Bohème, die Pralafera zwar mit leicht reduziertem Orchester, aber vollem, wenn auch hinter der Bühne postiertem Chor und einer hautnahen Personenführung ohne Abstandsregeln präsentiert, die bei einem so gefühlsintensiven Liebesdrama ohnehin keinen Sinn machten. Da fehlen nur noch winzige Schritte bis zum Normalmodus.

Allerdings kann sich Pralafera auch auf die Disziplin des Publikums verlassen, das während der ganzen Vorstellung und auch auf dem Vorplatz die Schutzmasken anbehält. Nicht nur aufwändige Opern wie Ambroise Thomas‘ Hamlet, Verdis Traviata und Lombardi oder Offenbachs Les Contes d’Hoffmann, die noch folgen sollen, lassen es an Attraktivität nicht fehlen, auch was die Riege der Gesangsstars und das insgesamt hohe vokale Niveau angeht, bleibt Pralafera seinen gewohnten Ansprüchen treu.

Foto © Lorraine Wauters

Das betrifft nicht nur die Solo-Recitals mit Anna Netrebko kurz vor dem Lockdown und Jonas Kaufmann Anfang November, sondern auch die Besetzung der regulären Aufführungen. Für die Bohème konnte Pralafera niemand Geringeren als Angela Gheorghiu gewinnen, die neben Mirella Freni wohl beste Mimì der letzten Jahrzehnte. Mit großer, dennoch biegsam weicher Stimme ohne den geringsten Ansatz zu unangenehmen Härten vermag sie die anspruchsvolle Palette von zartesten Piano-Tönen bis zu großen Aufschwüngen mühelos zu bedienen. Und das auch darstellerisch mit charismatischer Intensität. Ebenso erfreulich, dass der Rest des Ensembles ohne nennenswerte Abstriche mithalten kann. Makellos gestaltet Ionut Pascu den Marcello mit seinem ebenso markanten wie kultivierten Bariton und auch Stefan Pop als Rodolfo, der seine Rolle mit großer Emphase und mühelosen Spitzentönen druckvoll ausführt, kann überzeugen. Etwas spitz klingt die Musetta von Maria Rey-Joly, gediegen der Schaunard von Kamil Ben Hsaïn Lachiri und blass der Colline von Ugo Guagliardo.

Auch wenn der Chor hinter und neben der Bühne posiert ist, klingt er erfreulich präsent. Dass das Orchester in leicht reduzierter Stärke aufspielt, kommt vor allem den vielen kammerspielartigen Szenen entgegen, ohne die Leuchtkraft der Partitur zu schmälern. Zumal Maestro Frédéric Chaslin mit viel Gespür für die feinen Töne der Partitur durch den Abend führt. Musikalisch ist Lüttich nach wie vor eine Reise wert.

Szenisch geizt Pralafera als Regisseur nicht mit aufwändigen Dekorationen von Carlo Sala. Er siedelt das Stück im heruntergekommenen Paris der Nachkriegsjahre an, in einer Zeit des Stillstands, aus dem allmählich das Leben und vor allem die Liebe wieder aufzublühen beginnen. Eine pikante Anspielung auf die Rekonvaleszenz-Phase im Corona-Umfeld, was jedoch allenfalls als Fußnote ohne tiefere Bedeutung zu werten ist. Die Bohème gibt Pralafera reichlich Gelegenheit, das zu zeigen, was er am besten kann: Personen zu führen, die emotionalen Schichten eines Werks freizulegen und beim Publikum ohne Klischees und sentimentale Entgleisungen die Rührung zu erzeugen, die ein Stück wie die Bohème hervorrufen will und soll.

Begeisterter Beifall des Publikums für einen Auftakt nach Maß, Respekt auch für den Wagemut und Optimismus des Intendanten.

Pedro Obiera