O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Es gibt kein Opfer

ROBOZEE VS. SACRE
(Christian Zacharas)

Besuch am
18. September 2020
(Einmaliges Gastspiel)

 

Forum Leverkusen

Komplett entspannt sitzt er auf einem Stuhl auf der Bühne, die immer noch im Halbdunkel daliegt, und beantwortet Fragen aus dem Publikum. Das ist noch ganz begeistert von dem, was es gerade eine gute halbe Stunde lang erlebt hat. Aber viele Fragen sind tatsächlich offen geblieben. Schließlich ist es doch eher ungewöhnlich, wenn ein Hiphop-Tänzer Igor Strawinskys Sacre du Printemps auf einer konventionellen Bühne vertanzt. Lange haben sich die Alten nicht für den Straßentanz interessiert, der doch eher was für junge Leute war. Und dann wurde das Thema so komplex, dass die Jugendlichen keine Lust mehr hatten, den Alten irgendwas zu erklären, vielleicht auch, weil sie selbst erwachsen wurden. Mit Ausnahme von Leuten wie Christian „Robozee“ Zacharas, die nun auf die Bühnen der „Hochkultur“ steigen.

Dramaturgin Claudia Scherb hat ihn in das Forum Leverkusen eingeladen. Zacharas‘ Vater war Opernsänger. Der Junior wusste also früh, dass das Theater nichts für ihn war, erzählt er. Seine Kindheit verbrachte er lieber auf den Tanzflächen des lateinamerikanischen Tanzes. Mit gegelten Haaren verbrachte der Siebenjährige seine Zeit damit, seine motorischen Fähigkeiten auf dem Parkett zu perfektionieren. Später fand er das „uncool“ und wandte sich dem Hiphop, genauer dem Popping zu. Was für ältere Menschen eher nach einer unanständigen Beschäftigung klingt, meint in den Kreisen des Hiphop eine besondere Tanzrichtung, die sich durch roboterhafte und wellenhafte Bewegungen auszeichnet. Darin brachte Zacharas es zur Meisterschaft. Mit 35 Jahren fangen Balletttänzer allmählich an, darüber nachzudenken, was sie nach ihrem Berufsleben machen. Zacharas begegnete in dieser Zeit Strawinsky, und die Musik ließ ihn nicht mehr los. Im Saalgespräch weist er darauf hin, dass in „seiner“ Kultur damit niemand was Rechtes anfangen kann, aber das beirrte ihn nicht.

Wie üblich, entwickelte er zur Musik Improvisationen, ohne dass er damit richtig glücklich wurde. Erst in der Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Malou Airaudo, die schon bei Pina Bausch am Sacre mitgewirkt hatte, fand er zu Strukturen, die aus einer guten Idee ein großartiges Werk entstehen ließen.

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Auf den Fluren rund um den Publikumssaal im Forum Leverkusen dröhnt laute Hiphop-Musik. Irgendwelche Fans – oder Gegner? – wollen hier ein Zeichen setzen, so scheint es. Die Musik ertönt im Saal. Ein junger Mann mit einem Lautsprecher auf dem Rücken schreitet die Stufen von oben herab zur Bühne. Er durchschreitet die Fläche zur hinteren linken Ecke, lässt sein Rückengestell mit Lautsprecher zu Boden gleiten, stellt die Musik ab, zieht die lilafarbene, seidige Jacke aus, streift die Baseball-Kappe ab und schreitet zu einem größeren Lautsprecher, der auf der Bühne in einem Viereck steht, das durch weiße Streifen gekennzeichnet ist. Und damit beginnt Strawinsky, musikalisch von seinem Frühlingsopfer zu erzählen. Seit der skandalös entglittenen Uraufführung 1913 in Paris hat es unzählige Aufführungen in irgendwelchen Tanzformen gegeben. Und die Musik hat nichts von ihrer Faszination verloren. Jetzt also zeigt Robozee, wie ein Hiphopper damit umgeht.

Das Quadrat versinnbildlicht den Kreis, der sich auf der Straße bei einem „battle“ bildet. Hier finden sich auf der Straße mindestens zwei Tänzer ein, die zur Musik aus einem Abspielgerät ihre eigenen Improvisationen finden. Robozee sieht seinen „Gegner“ in dem zweiten, großen Lautsprecher, aus dem Sacre du Printemps ertönt. Dagegen kämpft er an, setzt sich mit der Aggressivität auseinander. Seine roboterhaften Bewegungen, die körperlichen Zuckungen sitzen millimetergenau auf den Noten. Schwieriger wird es in den Piano-Phasen, die er auch schon mal nutzt, um auf dem Boden zu liegen oder sich auf den kleinen Lautsprecher in der Ecke zu setzen. Das Licht ist spärlich und ausschließlich weiß gesetzt, als einziges dramaturgisches Mittel, das bühneneigen ist, auf der Straße nicht stattfindet, ist der Bühnennebel, der zwischenzeitlich bedrohlich im Bühnenhimmel kumuliert. Eine halbe Stunde reicht dieses Ausweichen, Mitschwimmen, Ankämpfen der Musik. Dann geht Robozee. Die Musik geht auf der leeren Bühne zu Ende. Nein, Robozee ist kein Opfer. Er stirbt nicht auf der Bühne. Opfer gibt es im Hiphop nicht, keine Verlierer. Es gibt Gewinner und Menschen, die den Battle beenden, um zum nächsten aufzubrechen. Selten hat jemand die Kultur oder die Philosophie des Hiphops so deutlich auf einer klassischen Bühne gezeigt.

Zacharas hat zwei Welten auf der Bühne zusammengebracht, und es ist ihm gelungen, daraus einen deutlichen Gewinn zu ziehen. Das Publikum ist begeistert, dankt mit langanhaltendem Applaus und einigen Bravo-Rufen. Einmal mehr haben die Leverkusener und ihre Gäste aus den Nachbarstädten im Forum etwas ganz Besonderes erleben dürfen. Dass in Corona-Zeiten die große Bühne für ein Tanz-Solo herhalten muss, damit die Abstände eingehalten werden können, fällt niemandem auf. Dazu hat das Geschehen auf der Bühne sie alle viel zu sehr in seinen Bann gezogen. Am Ende des Abends bleibt nur eine Frage offen: Wie wird Christian „Robozee“ Zacharas diese seine Arbeit mit einem neuen Stück toppen können? Unvorstellbar.

Michael S. Zerban