O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Alte Musik, neu aufgelegt

ORIGINAL UND BEARBEITUNG
(Diverse Komponisten)

Besuch am
27. September 2020
(Einmalige Aufführung)

 

Forum Leverkusen, Großer Saal

Wer derzeit über die A59 nach Leverkusen kommt, muss schon einen guten Grund dafür haben. Die Baustellen scheinen sich wie ein Schwamm in einer Landschaft auszubreiten, die von Giftmüll unterfüttert ist. Mittlerweile ziehen sich die Barken bis in die Stadt hinein. Kaum zu glauben, dass man hier ein Mekka der Kultur vorfinden soll, wenn man es nicht besser wüsste. Tatsächlich kann man hier Kultur genießen, ohne selbst als Angehöriger einer Risikogruppe nach menschlichem Ermessen Angst vor Ansteckung haben zu müssen. Viel zu gut gesichert hat das Forum Leverkusen als zentrale Spielstätte Gäste und Mitarbeiter. Das Haus bietet ausreichend Platz, um jeden Besucher ungefährdet in sicheren Spuren vom Eingang zum Sitz im gut belüfteten Saal zu bringen. Die Abstände zwischen den besetzbaren Stühlen sind schon als luxuriös zu bezeichnen, so dass hier getrost während der Aufführung auf Masken verzichtet werden kann. Dem Kartenverkauf treibt es vermutlich gerade die Tränen in die Augen, aber die übrigen Stühle sind fest verklebt, und so finden derzeit nur wenige Besucher in den riesigen Saal. Aber die sind eben sicher.

Birgitta Franzen ist die Konzertdramaturgin im Forum Leverkusen, und sie bemüht sich intensiv, ihren Besuchern ein hochattraktives Programm zu bieten, das abseits von Galas und Best-of-Konzerten, mit denen andere Spielstätten derzeit massenhaft punkten wollen, auch in Corona-Zeiten noch so etwas wie Weiterentwicklung zu erreichen. Und so hat sie heute Abend das E-Mex-Ensemble unter der musikalischen Leitung von Christoph Maria Wagner zu einem Gesprächskonzert eingeladen. Ein Konzert also, in dem nicht einfach nur ein Programm abgespult wird, sondern beispielsweise zwischen einzelnen Aufführungsblöcken ein Gespräch über die Musik stattfindet. Franzen selbst übernimmt die Moderation und bietet gemeinsam mit Wagner ein nicht nur höchst informatives, sondern auch mit trockenem Humor ein amüsantes Paar.

Bariton Christoph Scheeben – Foto © O-Ton

Original und Bearbeitung – Musikalische Klassiker im Spiegel der Gegenwart hat das E-Mex-Ensemble sein Programm überschrieben. Und damit noch nicht verraten, welch höchst interessanter Abend vor dem Publikum liegt. Für den Einstieg hat Wagner niemand Geringeren als Robert Schumann ausgewählt. Mit Schön Hedwig gibt es den Blick auf eine längst vergessene Kunstform, das Melodram für Sprecher und Klavier, das Wagner für Ensemble bearbeitet hat. Als Sprecher tritt Bariton Christoph Scheeben an, der auch den sängerischen Part an diesem Abend lust- und kunstvoll übernimmt. Es folgen die beiden Lieder Ich wandre nicht und Der Spielmann, ehe Martin von der Heydt zwei Stücke für Pedalflügel aufführt. Letzteres ist nur möglich, weil Klara Schumann die Werke ihres Mannes für das Klavier transponiert hat, bevor sie der Vergessenheit anheimfallen. Vorerst also jede Menge Romantik, die aber in neuer Bearbeitung frisch und heutig daherkommt.

Ein Jahrhundert später. Auch in diesem Programm hat Wagner Platz für Claude Vivier eingeräumt, den Kanadier, der nur ein ausgesprochen kurzes Leben genießen durfte, 35 Jahre wurde er alt, und den der Kollege für vollkommen unterschätzt hält und deshalb immer ein Plätzchen für ihn bereithält, wenn er ihm nicht wie vor einiger Zeit gleich ein ganzes Festival widmet. Heute Abend bleibt es bei Pulau Dewata – Insel der Götter – einem Stück aus dem Jahr 1977, das Wagner für Flügel, zwei Marimbaphone, Trompete, Cello, Klarinette, Querflöte und Geige ausgesprochen luxuriös einrichtet. So bleiben zwar die Anklänge an die indonesische Gamelan-Musik erhalten, die auch durchaus beabsichtigt waren, aber die Patina ist abgeplatzt. Mit Café 1930 von Astor Piazzolla, virtuos dargeboten vom Klarinettisten Robert Beck und Petteri Waris am Akkordeon, leitet Wagner über zu Mauricio Kagels Tango Alemán aus dem Jahr 1978. Das Besondere an dem Werk: Den Text zu finden, überlässt Kagel anderen. Scheeben lässt sich auf einen Fantasie-Text ein, den er zwar hervorragend und durchaus mit Witz präsentiert. Aber wäre hier ein wirklicher Text nicht die größere Herausforderung gewesen? Es bleibt nicht viel Zeit, darüber nachzudenken.

Petteri Waris – Foto © O-Ton

Im letzten Block geht es um das meistgenannte Thema dieses Jahres. Na ja, ein bisschen mau ist der Witz schon, nachdem er bereits in den so genannten Sozialen Medien kursierte. Es geht um Beethoven. Karin Haußmann hat 2017 die Bearbeitung verschiedener Beethoven-Lieder vorgenommen, dabei allerdings größtmögliche Vorsicht walten lassen. In erster Linie hat sie die „Klangkoordinaten“ verändert. Und so erklingen die Instrumente nicht mehr unmittelbar am Ort des Geschehens, sondern zunächst von den Bühnenseiten, um dann ins Zentrum vorzudringen.

Im Zentrum des Taifuns kommen die Besucher beim letzten Werk an. Zur Uraufführung seines neuesten Werkes, mit dem das E-Mex-Ensemble ihn beauftragt hat, ruft Wagner das gesamte Ensemble auf den Plan. Er, der gleichzeitig als Dirigent den Abend über wirkt, hat sich an einem Remix der Eroica versucht. Ein Remix im Sinne des Progressive Rocks der 1980-er Jahre. Und damit sind alle Partitur-Fetischisten außer Kraft gesetzt. Nein, von der Eroica ist nicht viel übriggeblieben, aber warum auch? Turbulent geht es zu. Es scheint, als habe Wagner mehr den Energiegrad der dritten Sinfonie Ludwig van Beethovens ausgesogen als eine Modernisierung versucht. Und das ist gut so.

Das Publikum, darunter viele Anhänger des Ensembles, feiert den Abend mit viel Applaus. Einmal mehr hat das Forum Leverkusen bewiesen, dass hier großartige Programme stattfinden, zumal im Moment, in dem sich viele andere Spielstätten lieber auf die Greatest Hits verlassen. Ja, der Abend ist eine Wohltat, weil er eine Zukunft verspricht, die wohl noch lange Zeit Versprechen bleiben muss.

Michael S. Zerban