O-Ton

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Schneeglöckchen bleibt allein

DER KLEINE SPATZ VOM BOSPORUS
(Tuğsal Moğul, Christiane Hagedorn)

Besuch am
30. November 2021
(Einmaliges Gastspiel)

 

Forum Leverkusen, Studio

Was für ein großartiger Abend. Im riesigen Forum Leverkusen huschen ein paar Menschen durch Foyer und Gänge. Sie treffen sich im Studio wieder, um irritiert nach den Plätzen zu suchen, die auf ihren Karten angegeben sind. Die Einlasserin bleibt geduldig. Nein, es ist freie Platzwahl. Zwei Rollstuhlfahrer suchen nach ihren Plätzen. Rasch erscheint der Haustechniker und entfernt zwei Stühle. Auch, wenn’s mal nicht ganz so rund läuft, das ist das Sympathische am Forum, sind immer schnell helfende Hände zur Stelle, die kleinere Probleme ohne Aufheben beseitigen. Pünktlich hat jeder seinen Platz auf der Tribüne gefunden, die auf der Bühne aufgebaut worden ist, und so kann es mit nur wenig Verspätung losgehen.

Die öffentlich-rechtlichen Medien sind bis heute nicht von ihrer Berichterstattung abgewichen, wenn es um das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei vom 30. Oktober 1961 geht, jenem zweiseitigen Dokument, dass das Leben so vieler Menschen verändern sollte. Im Krieg und in der Wirtschaft gilt: Einzelschicksale gelten nichts. Da wird gern die anonyme Masse von Gastarbeitern dargestellt, die Deutschland „überfluteten“. Eine andere Sichtweise eröffnen Theater in zahlreichen Stücken. Sie hinterfragen, was die Menschen bewegte, aus der Türkei nach Deutschland zu kommen, berichten, wie es ihnen im „Land der Verheißung“ erging. Christiane Hagedorn eröffnet ihren Abend Der kleine Spatz vom Bosporus mit einer Fangfrage. Ein Mensch geht aus der Türkei weg, um Arbeit zu finden. Was glauben Sie, wohin er geht? Der Leverkusener antwortet weltgewandt: nach Almanya. Der Rheinländer antwortet siegessicher: nach Köln. Dort haben die türkischen Gastarbeiter schließlich einen überwältigenden Anteil daran, dass die Ford-Werke erfolgreich sind. „Mehmet findet eine Arbeit als Elektriker bei Telefunken in Westberlin“, beginnt Hagedorn ihre Geschichte, die also so ganz anders verlaufen wird als im ersten Moment angenommen.

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Tuğsal Moğul und die Schauspielerin haben eine Geschichte gefunden, die nicht nur Hagedorn auf den Leib geschrieben, sondern auch dem Leben abgeschaut zu sein scheint. Der Regisseur, Schauspieler und Mediziner hat das Stück, das das Leben Mehmets nachzeichnet, mit Liedern von Sezen Aksu kombiniert. Aksu stammt aus Saraköy, wird in der Türkei liebevoll Minik Serçe, zu Deutsch kleiner Spatz, genannt und ist dort so etwas wie eine Nationalheldin. Kleiner Haken der Inszenierung Moğuls: Es gibt kein Programmheft und auch keine andere Möglichkeit, etwas über die Inhalte der Lieder zu erfahren. So bleibt als einziger Genuss der Wohlklang, den Hagedorn verbreitet.

Das Set hingegen ist wohldurchdacht. Im Hintergrund ist die Band Anahtar-Bahnhof platziert. Davor gibt es links eine Kiste mit allerlei Unterlagen und Bilder, die unter einer funzeligen Birne steht, wie man sie vielleicht auf einem Dachboden finden könnte. Rechts steht ein kleiner Turm, der unter einer Decke verschwindet und sich später als brauchbares Utensil entpuppt. Mittig ist ein Mikrofonständer aufgebaut. Damit hat Hagedorn vier Anlaufstationen, die sie sehr gut zu nutzen weiß. In Verbindung mit ein paar Accessoires weiß die Darstellerin die Geschichte von Mehmet zu erzählen, indem sie in die verschiedenen Rollen schlüpft.

Da ist sie die türkisch-deutsche Sängerin Selma, deren Eltern und was sonst noch so an Rollen anfällt. Mehmet holt seine Frau Hatije nach zwei Jahren nach Deutschland, mit der er sich alsbald über männliche Nachkommen freuen darf. Dabei hätte der Elektriker, der in der Heimat schon die Aufnahmeprüfung am Konservatorium bestanden hatte, gern eine Tochter, die an seiner Stelle die musikalische Laufbahn absolvieren soll. Erfüllung findet sein Wunsch schließlich, als er in Ostberlin Gudrun kennen- und lieben lernt. Ihre Tochter Selma blüht und gedeiht in der Liebe ihrer Mutter – von Hagedorn mit einem kräftigen Berliner Dialekt versehen – und des Vaters, der alle zwei Wochen das Wochenende mit ihr verbringt. Liebe kennt keine kulturellen Unterschiede. Der deutsche Staat schon. Der versucht, die Gastarbeiter – die Geister, die er rief – wieder loszuwerden. Zur Not mit mehr oder minder großzügigen Abfindungen. Mehmet entscheidet sich für das Geld und seine Westberliner Familie, verlässt Deutschland ohne Gudrun und Selma.

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Spätestens zu diesem Zeitpunkt der Geschichte haben die Menschen auf der Tribüne viel gelacht, dem wunderbaren Gesang applaudiert und auch hier und da schon die eine oder andere Träne verdrückt. Den Kitsch hat Hagedorn mit so viel Zucker überschüttet, dass man lächelnd ertragen kann. Mit 19 Jahren macht sich Selma auf die Suche nach dem verlorenen Vater. Die Reise führt nach Istanbul, kleine Stadtrundreise inklusive. Aber ist es wirklich die Reise an den Bosporus oder doch eher das Erwachsenwerden? Zumindest schmerzt es ziemlich, weil der Vater weitergezogen ist, ohne Spuren zu hinterlassen. Und die Wunden der Seele haben keine Zeit zu vernarben.

Anahtar-Bahnhof ist eine vierköpfige Band in ungewöhnlicher Besetzung. Martin Scholz sitzt am Flügel, Ahmet Bektaş spielt eine elektrisch verstärkte Oud, Jens Pollheide lässt den Bass vibrieren und steuert die Nei bei. Ömer Bektaş schließlich bedient alles, was für den Rhythmus wichtig ist. Die Musik erklingt mit Leichtigkeit, mischt sich aus türkischer Folklore und Jazz-Ambitionen, ohne sich ernsthaft festlegen zu wollen. So bleibt eine schwebende Leichtigkeit, die nicht nur den Gesang Hagedorns auf das Feinste unterstreicht, sondern die Kulturen zusammenführt, fast möchte man sagen: die zusammengehören.

Es ist eines dieser seltenen kleinen Theaterstücke, aus denen der Zuschauer beseelt herausgeht, das Leben ein bisschen besser zu verstehen glaubt, einen Hauch Sehnsucht im eigenen Herzen verspürt und genau verstanden hat, wie schwer und schön die Liebe ist – die Liebe zum Leben, das keine Kulturen braucht, weil es immer nur die Menschen betrifft.

Michael S. Zerban