Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
BLACK SWAN/NOVA CARMEN
(Andonis Foniadakis, Sharon Eyal)
Besuch am
8. Februar 2022
(Einmaliges Gastspiel)
Seit 55 Jahren gibt es das Israel-Ballett. Am 27. Januar 1967 fand die erste Aufführung der beiden Gründer Berta Yampolsky und Hilel Merkman mit vier Tänzern in Cholon, einer Stadt unweit von Tel Aviv, auf. Heute verfügt das Ballett über ein eigenes Probenzentrum mit angeschlossener Schule im Zentrum von Tel Aviv. George Balanchine war von der Kompagnie so angetan, dass er ihr die Rechte an all seinen Choreografien überließ. Typisch für das Ballett ist die Repertoire-Mischung aus klassischen Balletten, zeitgenössischen Choreografien sowie neuen Versionen klassischer Ballette. Heute wird die Kompagnie von Claire Bayliss Nagar geleitet, einer ehemaligen Tänzerin der nicht minder berühmten Batsheva Dance Company.
Foto © O-Ton
Wenn die Truppe nicht gerade auf internationalen Bühnen unterwegs ist, tritt sie bevorzugt im Opernhaus von Tel Aviv auf. Dort fanden auch die Uraufführungen der beiden Stücke statt, die jetzt im Forum Leverkusen gezeigt werden. Black Swan stammt aus dem Jahr 2016, Nova Carmen wurde erstmals 2018 in Tel Aviv auf die Bühne gebracht.
Schwanensee mit der Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowski ist wohl das berühmteste Ballett der Welt, das sich seit seiner Uraufführung 1877 am Bolschoi-Theater in Moskau bis heute größter Beliebtheit erfreut. Ob in der Original-Inszenierung von Marius Petipa, zahlreichen Variationen, darunter auch Inszenierungen von Balanchine, Cranko, Nurejew oder Neumeier in Hamburg, als Parodie oder in der Schwulen-Version von Dada Masilow: Das Stück scheint unverwüstlich. Spätestens mit dem Psychothriller Black Swan mit der fabelhaften Natalie Portman aus dem Jahr 2010 rückt allerdings immer häufiger Odile in den Vordergrund, der böse Schwan, der Odette den Prinzen streitig machen möchte. Auch Andonis Foniadakis nimmt sich in seiner 35-minütigen Version dieses Aspekts an. Er möchte das Dunkle, das Dämonische der Verführung sichtbar machen. So zerstört er die klassische Handlung, zitiert lediglich einige typische Figuren wie etwa den Flügelschlag und konzentriert sich auf die Energie, die im Tanz freigesetzt wird, vor allem, wenn hier der Spitzentanz ununterbrochen zelebriert wird. Darüber prasselt lautstark die Musik von Tschaikowski und Julien Tarride aus den Lautsprechern des Großen Saals. Unterstrichen wird die kraftvolle Darbietung mit den Kostümen, die Foniadakis gemeinsam mit Margarita Alexandrov entwickelt hat. Schwarze Ganzkörperanzüge mit hellen Applikationen betonen die Muskulatur und lassen Tutu und ähnliche Reminiszenzen der Vergangenheit rasch vergessen. Ein Wermutstropfen ist das Lichtdesign von Avi Yona Bueno, der es mit dem Schwarz etwas zu gut meint. Wenn man die Gesichter nur noch schemenhaft erkennen kann, ist es eindeutig zu dunkel auf der Bühne. Nach einer guten halben Stunde ist es dann vor allem die Augenmuskulatur, die angestrengt ist.
Foto © O-Ton
Mit einer neuen Carmen wollen Sharon Eyal und ihr langjähriger künstlerischer Parther Gai Behar beeindrucken. In Nova Carmen verwandelt sich die Kompagnie in Plasma, eine wabernde Masse, aus der die Solisten heraustreten, sich ihr gegenüberstellen, sie in ihren Bewegungen imitiert. Ständige, unaufhörliche kurze Schritte ermöglichen eine Intensität, die die Darstellung der Solisten betont. Alon Cohen sorgt dafür, dass das alles auch gut sichtbar bleibt, ohne auch nur einen Moment an Spannung zu verlieren. Rebecca Hytting kleidet die Tänzer in schwarze Badeanzüge und -hosen, die Füße stecken in schwarzen Strümpfen. Vor allem die Idee mit den schwarzen Strümpfen sorgt für interessante Effekte, wenn die Füße der Tänzer nicht mehr sichtbar sind. Unermüdlich stampfen die Beine im schwarzen Morast. Um das mal an einem Beispiel zu verbildlichen: Die Schüler einer Tanzschule absolvieren beim Tanztee einen Rock’n’Roll. Der dauert etwa drei bis vier Minuten. Danach ziehen sie sich erschöpft vom Parkett zurück, um erst mal ein Bier zu trinken, damit sie wieder zu Kräften kommen. Auf der Bühne in Leverkusen walten schier unbändige Kräfte. Dabei spielt Carmen eine untergeordnete Rolle, wird als Einzelperson gar nicht sichtbar. Zwar nimmt der Zuschauer die Musik von Ori Lichtik wahr, die Auszüge der Originalmusik von Georges Bizet zusammenstellt, aber im Vordergrund stehen hier immer wieder die Männer. Und die zeigen, wenn sie sich nicht gerade „prügeln“, Zitate des Flamencos. Schließlich geht die Reise nach Spanien, genauer: nach Sevilla. Da darf das so sein. Und der Höhepunkt der Choreografie bleibt bei aller Verfremdung die Habanera, möglicherweise wegen des hohen Wiedererkennungseffektes, aber ganz sicher auch ob der tänzerischen Leistung.
Lange hat man das im Großen Saal des Leverkusener Forums nicht mehr gesehen: Dass sich die Reihen geschlossen erheben, um die Tänzer mit tosendem Applaus zu feiern. Aber es ist ein gutes Gefühl. Und gewiss nicht nur für die Kompagnie.
Michael S. Zerban