O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Stéphane Tasse

Aktuelle Aufführungen

Viel Neues unter der Frühlingssonne

IN BLOOM – UN SACRE DU PRINTEMPS
(Pierre Bolo, Annabelle Loiseau)

Besuch am
24. Januar 2018
(Deutsche Erstaufführung)

 

Forum Leverkusen

Wer heute ein Ballett zur Musik von Igor Strawinskys Le sacre du printemps choreografieren will, muss sich schon etwas wirklich Neues einfallen lassen. Angefangen mit Vaslav Nijinski, haben sich so gut wie alle bedeutenden nachfolgenden Choreografen mit dem Stück befasst. Was gäbe es dem also noch Sinnvolles hinzuzufügen? Pierre Bolo und Annabelle Loiseau haben eine Antwort gefunden. „Le sacre du printemps klopfte quasi an meine Tür … Der besondere Rhythmus, die Beats und die Bässe dieses Meisterwerks; die Schritte und typische Bewegungssprache von Nijinskis Choreografie waren wie ein Hinweis für Annabelle und mich“, erzählt Bolo. Der HipHop-Tänzer, Choreograph, Schauspieler und Regisseur gründete 2005 zusammen mit Tänzerin Loiseau in Nantes die Compagnie Chute Libre, was so viel wie freier Fall bedeutet. Anfang November war die Uraufführung ihres neuesten Werkes In Bloom – Sacre du Printemps in Rouen zu erleben. „Für uns war die Verbindung der Original-Choreografie zum HipHop offensichtlich, die Art, Musik zu erleben und zu tanzen“, erinnert Bolo sich an die Entstehung des neuen Stücks, das bereits jetzt im Forum Leverkusen aufgeführt wird.

POINTS OF HONOR

Musik
Tanz
Choreografie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Mit einem Kunstgriff verwandelt die Compagnie das Stück über einen grausamen Ritus in ein Fest über Trauerarbeit, ohne den archaischen Charakter aufzugeben. Die Bühne ist komplett geräumt, die Vorhänge zu den Seitenbühnen sind entfernt. Der Blick geht hoch zu den Seilzügen, an denen ein paar Scheinwerfer und ein Lüster aufgehängt sind. Auf der Bühne selbst sind seitlich zahlreiche Scheinwerfer fest aufgestellt, davor etliche freibewegliche. Ein paar Sitzgelegenheiten und ein Tisch komplettieren die Ausstattung. Eine Tänzerin betritt die Bühne und legt sich als Tote hin. Sie ist das Opfer der Frühlingsweihe. Im Folgenden wird die Compagnie tanzend um die Tote trauern, bis im erlösenden Finale die Vergangenheit begraben wird. Annabelle Loiseau hat gemeinsam mit Nathalie Nomary die Kostüme ausgewählt. Im ersten Teil treten die Tänzer in „urbaner Alltagskleidung“, mit Mänteln bekleidet auf, die sie im zweiten Teil ablegen. Das korrespondiert mit der Choreografie und dem Tanzstil. Ein fantastisches Licht-Design hat Véronique Hemberger geschaffen, einer der absoluten Höhepunkte des Abends. Mit ständig wechselnden Aufstellungen der Scheinwerfer entstehen auf der ansonsten schwarzen Bühne immer neue Lichträume in verschiedenen Intensitäten. Im ersten Teil ist die Bühne so hell, dass man die Akteure kennenlernen kann, erst später erlaubt die Licht-Designerin sich auch Verschattungen, die dann für große Spannung sorgen. Das ist wirklich von Anfang bis kurz vor Ende exzellent durchdacht. Dass ganz zum Schluss grelle LED-Lichter das Publikum blenden, kann man durchaus als „Hoffnungsschimmer“ werten, aber dazu hätten die Scheinwerfer auch gen Himmel gerichtet sein können. Selten aber ist im Tanz eine solche Intensität allein mit dem Licht bewirkt worden, wie sie hier zu erleben ist.

Die zehn Tänzer verhehlen ihre HipHop-Wurzeln nicht, reduzieren sie aber auf einzelne Elemente in einem zeitgenössischen Tanz, der sehr kraftvoll daherkommt und die Arme auffallend stark in die rhythmische Arbeit einbezieht. Da werden die Hände zum Himmel gereckt, um die Hilfe der Götter in der Trauer herbeizuflehen oder in typischer Manier zum Körper verhalten, wie sie eben in Götterdarstellungen so oft zu finden ist. Der Charakter des ursprünglichen Balletts in der orientalischen Ausrichtung bleibt also erhalten, ohne auf Modernität durch HipHop-Elemente zu verzichten. Vor allem der erste Teil ist stark von der Gruppe geprägt. Hier kann die Compagnie ihre Präzision unter Beweis stellen, wenn sie aus freien Läufen in die Synchronität des Corps scheinbar aus dem Nichts zusammenfindet. Erst ist zweiten Teil ist Platz für Pas de deux oder ein über Minuten fesselndes Solo von Clementine Nirennold, die gleichsam von den Toten aufersteht und in die Erinnerungswelt der Hinterbliebenen wechselt. In der Blüte – in bloom – ihres Lebens hat sie die Welt verlassen, um nun in der Ewigkeit der Musik zu folgen. Das wird nicht erzählt, sondern sehr gekonnt vertanzt. Kompliment also auch für eine großartige Choreografie, die über 50 Minuten mitreißt.

Wieder einmal kommt die Musik aus dem Lautsprecher, was in diesem Fall gerechtfertigt ist, weil die Compagnie eine Einspielung des Cleveland Orchesters unter der Leitung von Pierre Boulez aus dem Jahr 1947 verwendet – und das zu Recht. Denn diese Version betont die Rhythmik stärker als die Orientalik, was dem Gesamteindruck sehr zugute kommt. In der Komposition des Zwischenspiels von Yvan Talbot und Philippe Pham Van Tham ist dann auch eine Aufnahme von Leonard Bernstein eingeflochten, in der dieser die Vorzüge der einzelnen Instrumente preist. Eine hübsche Idee.

Die Veranstalter haben Mut bewiesen. Nach 50 Minuten ist das Ende des Abends erreicht. Und es gibt keine Stücke, die den Abend künstlich verlängern. Bravo! Auch dem Publikum im sehr gut besuchten Saal gefällt das, denn so kann es die Akteure hemmungslos im Stehen für eine Interpretation feiern, die frisch und modern daherkommt, ohne den Charakter des Werkes zu verraten. Wieder ein außerordentlich gelungener Abend im Forum, der dem kommenden Höhepunkt vorangestellt wurde. Denn Mitte März ist dann wieder Eric Gauthier zu Gast – im zehnten Jahr in Leverkusen. Wenn das kein Grund zum Feiern ist. Gauthier selbst hat gerade bekanntgegeben, dass er sich mit Anfang 40 als aktiver Tänzer von der Bühne zurückziehen wird. Auf seine erfrischenden Ansprachen werden die Leverkusener aber wohl auch in Zukunft nicht verzichten müssen.

Michael S. Zerban