O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Aus der Urzeit ins Paradies

FOSSILE
(Martin Harriague)

Besuch am
18. November 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Forum Leverkusen, Studiobühne

Die Menschen sind tief verunsichert. Vor einem Jahr hat man ihnen gesagt, dass der Allheilsbringer die Impfung sei. Inzwischen sind zwei Drittel der deutschen Bevölkerung geimpft. Und was passiert? Die Infektionszahlen explodieren. Täglich verkünden die öffentlich-rechtlichen Medien, dass die Intensivstationen zulaufen. Politik und Medien geben den Ungeimpften die Schuld. Das ist in etwa so, als wolle der Kapitän der Titanic dem Koch die Schuld geben, weil er den Eisberg nicht rechtzeitig zu Dessert verarbeitet habe. Viele Menschen greifen zur Selbsthilfe, ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Wer will es ihnen verdenken? Die Kultur bekommt es zu spüren. Zwar weiß Claudia Scherb, dass Zusatzveranstaltungen, die nicht im Spielzeitheft abgedruckt sind, immer auf geringe Resonanz stoßen. Aber die Rigorosität, mit der die Leverkusener diesen Abend ignorieren, ist der Dramaturgin, die für das große Bühnenprogramm im Forum Leverkusen zuständig ist, auch neu. Bis zuletzt hatte das Leitungsteam gehofft, dass irgendein Wunder geschieht. Aber das Wunder blieb aus. Nach Rücksprache mit den Künstlern fiel die Entscheidung zugunsten derer aus, die eine Karte erworben hatten. Etwa fünf Prozent der üblichen Kartenverkäufe blieben am Abend übrig. Und jeder, der zu diesen fünf Prozent gehörte, darf sich im Nachhinein glücklich schätzen, dabei zu sein. So wie auch die Künstler, die aus Frankreich und Spanien angereist sind. Der Abend wird kurzerhand auf die so genannte Studiobühne verlegt. Die Studiobühne ist ein besonders schönes Instrument des Forums. Die Bühne wird zum großen Zuschauerraum hin abgesperrt. Auf die Bühne kommt eine Zuschauertribüne. Und schon ist ein Studio entstanden. Die Besucher lieben das, weil sie niemals näher an die Künstler herankommen. So auch heute Abend. Angekündigt ist Martin Harriague mit seiner Choreografie Fossile.

Harriague ist Residenzkünstler des Choreographic Centre National Malandain Ballet in Biarritz. 2019 entwarf er seine Choreografie Fossile als Duett und tanzte sie zunächst selbst mit einer Partnerin, die er aus der Kibbuz Contemporary Dance Company mitgebracht hatte. Inzwischen tritt bereits die dritte Generation an Tänzern an. Und zwar zum dritten Termin. Bereits zwei Mal musste die Aufführung in Leverkusen pandemiebedingt abgesagt werden. Umso stärker der Wille der Künstler, diese Aufführung nun auch tatsächlich über die Bühne zu bringen.

Jetzt haben sich also um die 30 Besucher auf der Studiobühne versammelt, um zu erfahren, was es mit der Urzeit auf sich hat. Unter ihnen Demis Volpi, Ballettdirektor der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg. Warum auch nicht? Leverkusen kann stolz auf sich sein, dass hier Choreografen aus aller Welt antreten. Und das Volpi nach Leverkusen kommt, zeigt seinen offenen Geist. Da sitzt er nun zusammen mit den anderen Besuchern vor dem eisernen Vorhang und hört sich metallisch schabende Geräusche an. Nach etlichen Minuten fährt der Vorhang hoch und öffnet den Blick auf die Bühne von Loïc Durand und Frédéric Vadé, die sich in das Studio einfügt, als sei sie für keinen anderen Ort entworfen worden. Wie das auf der großen Bühne hätte funktionieren können? Mag man sich nicht vorstellen.

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Rechts im Hintergrund steht eine schwarze Box. Im Mittelpunkt gibt es eine schwarze Folie, unter der es nach dem Auftritt einer nicht erkennbaren Person viel Bewegung gibt. Die Geschichte, die sich Harriague ausgedacht hat, scheint schnell erzählt. Unter einer Schicht, die sich auf der Erdkruste aus schwarzem Plastik aufgebaut hat, kriecht ein Mensch. Er zieht die Kruste von der Erde und wendet sich der Box zu, aus der er Fossiles zieht. Ein paar Steinbrocken und schließlich ein Skelett. Während die Skelette in den Schulklassen Frankreichs Oscar heißen, haben die Tänzer ihr Skelett Max genannt. Und Max wird der Tänzerin noch ganz schön zu schaffen machen. Oscar Pascual ist also als Tänzer inzwischen in die urzeitliche Box gekrochen und hat dort ein Skelett ausgegraben. Mit dem Skelett taucht auch Lara Ivančič auf. Ivančič bekommt den Schädel in die Hand – und scheitert daran. Der Tanz mit einem Gegenstand gehört wohl zum Schwierigsten, was ein Tänzer bewältigen kann. Und Harriague hat die Hürden hier besonders hochgelegt. Da kommt Ivančič nicht mit. Theatralik, Eleganz, Geschmeidigkeit und vermutlich auch einfach Lebenserfahrung fehlen, um aus dem Tanz ein rundes Erlebnis zu gestalten. Ihre Chance kommt, als sie Pascual, der sich inzwischen in die Box zurückgezogen hat, wiederbeleben muss. Das gelingt ihr wunderbar, und der anschließende Pas de deux gerät zum Höhepunkt des Abends. Der Choreograf hat hier eine schöne Bewegungssprache gefunden, die sich im Spannungsfeld von Ballett-Kunst, Einfallsreichtum und beinahe schon Humor bewegt.

Die Musik kommt, wenn sie erklingt, denn Harriague hat auch durchaus Mut zur Lücke, von Festplatte. Minutiös sind die Klänge von Franz Schubert zusammengeschnitten, da sitzt jeder Ton. Die Tänzer bewegen sich nicht „zur Musik“, sondern dem Choreografen gelingt es, die Hierarchie zwischen Tanz und Musik in eine gegenseitige Ergänzung zu überführen. Sehr viel sparsamer noch geht der Franzose mit dem Licht um. Hier wird jeder einzelne Lichtstrahl so knapp bemessen, dass das Wesentliche gerade nicht in der Dunkelheit absäuft. Millimeterarbeit, die fasziniert, aber über eine Stunde anstrengend wird.

Da freut man sich, wenn die Schlussszene geradezu im Licht erstrahlt. Die Erde ist wieder im Paradies angekommen. Ein gutes Omen, eigentlich. Aber da stehen Adam und Eva schon wieder. Das hat doch beim letzten Mal schon nicht funktioniert. Also, alles auf Anfang erscheint schon lange nicht mehr als Lösung. Aber als Schlusspointe der Choreografie kommt es beim Publikum gut an. Das bedankt sich mit warmem, langanhaltendem Applaus. Und schließt sich damit der Meinung Volpis ein, der es sich nicht nehmen lässt, dem Kollegen persönlich nach der Aufführung zu gratulieren, ehe er wieder nach Düsseldorf eilt. Den Leverkusenern aber sei ins Stammbuch geschrieben, dass ein wenig mehr Vertrauen in die Zusatzveranstaltungen durchaus angebracht ist. Das Spielzeitheft ist keine Bibel, sondern allenfalls ein roter Faden – und wie man sieht, sind es oft gerade solche Sondereinlagen, die das Kulturleben der Stadt noch einmal ganz besonders bereichern.

Michael S. Zerban