O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Keine Angst vor Tanz und großer Geste

AMERICANA
(Diverse Komponisten)

Besuch am
31. Dezember 2021
(Einmaliges Gastspiel)

 

Forum Leverkusen, Großer Saal

Da hat sich Dramaturgin Birgitta Franzen etwas Nettes einfallen lassen, um das Jahr zu einem gelungenen Abschluss zu bringen. Am Forum Leverkusen ist sie zuständig für Konzerte und Kleinkunst. Und zum Silvesterkonzert hat sie die Bayer Philharmoniker eingeladen. Ein etwa 70-köpfiges Werksorchester der in Leverkusen ansässigen Chemie-Fabrik, das sich längst einen Ruf über die Stadtgrenzen hinaus erarbeitet hat. Seit mehr als 100 Jahren gibt es das Orchester, dessen Angehörige zwei Mal wöchentlich nach ihrem Arbeitstag proben. In diesem Jahr trat Bar Avni als neue Chefdirigentin ihren Dienst an.

1989 geboren, begann Avni ihre musikalische Ausbildung als Schlagzeugerin am Konservatorium von Kfar Saba, einer Stadt, die etwa 15 Kilometer von Tel Aviv entfernt liegt. Als zweites Instrument wählte sie das Fagott. Nach ihrem Militärdienst begann sie ihr Dirigierstudium in Tel Aviv. Nach ihrem Bachelor-Abschluss absolvierte sie ihren Master an der Kunstuniversität Graz, ehe sie ihr Konzertexamen an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg ablegte. Zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien begleiten ihren Werdegang. In Leverkusen hat sie eine Dirigierverpflichtung für jährlich sechs Konzerte über drei Jahre übernommen.

Foto © O-Ton

Im Programm für das Silvesterkonzert kommen die Worte Mozart, Beethoven oder Bach nicht vor. Zudem soll das Konzert bereits um 17 Uhr beginnen. Es gibt also gute Gründe auch für junge Menschen, die Aufführung zu besuchen. Herumgesprochen hat es sich wohl nicht, dafür aber sehr wohl unter den älteren Menschen, dass Bar Avni an diesem Abend am Pult stehen wird. Und so sieht das Forum so viele Besucher wie schon lange nicht mehr im Großen Saal, nachdem die Lokalzeitungen die Dirigentin bereits anlässlich früherer Auftritte mit Lob überschüttet haben.

Avni betritt die Bühne und versprüht vom ersten Moment an eine Energie, die Funken schlagen möchte. Ihrer kurzen Ansprache folgt Arnold Schönbergs Fanfare for a Bowl Concert aus dem Jahr 1945. Eine beliebte Eröffnung, denn man gibt sich den Anstrich „moderner“ Klassik und läuft nicht Gefahr, das Publikum zu strapazieren. Der Programmpunkt dauert nur ein paar Minuten. Aber das steht ja nicht auf dem Abendzettel. Danach wird es ernst. Oder eben auch nicht. Dmitri Schostakowitschs Klavierkonzert Nr. 1 ist ein Doppelkonzert für Klavier, Trompete und Streichorchester aus dem Jahr 1933, das neben klassischen Elementen auch viel Humor enthält. Für den Abend konnten Tamar Beraia als Pianistin und Tamás Pálfalvi an der Trompete gewonnen werden. Welch ein Erlebnis! Die Notenblätter sucht man bei Beraia vergebens, wenn sie ihrer Virtuosität freien Lauf lässt. Bei der Uraufführung zur Spielzeiteröffnung des Leningrader Philharmonischen Orchesters saß Schostakowitsch selbst am Flügel. Aber ganz ehrlich: An diesem Abend in Leverkusen kann es keinen Menschen gegeben haben, der glaubt, dass er es besser gemacht hat. Pálfalvi scheint ein wenig gelangweilt, aber das täuscht. Er ist bestens vor der Zeit vorbereitet, bringt seine Einsätze präzise und auf den Punkt. Der zweite Höhepunkt des Abends ist formvollendet gelungen. Avni wirkt gespannt bis unter die Haarspitzen. Hier darf noch ein wenig Gelassenheit und Vertrauen in die Solisten einkehren.

Foto © O-Ton

Eine Belohnung für die Begeisterung des Publikums bis hierhin hält sie dennoch parat. Als zusätzliche Einlage spielt das Orchester einen Ausschnitt aus Johannes Brahms‘ Liebeslieder-Walzer im Arrangement für Orchester leicht, locker, fluffig, bevor es zum dritten Höhepunkt des Abends kommt. Ja, hier lernt man die Dirigentin richtig kennen und versteht, warum jeder, der sie erlebt, von ihr begeistert sein muss, obwohl schon ihre Moderationen viel Sympathie hervorrufen. Und so kündigt sie auch gern die Symphonie an, die dem Abend seinen Namen verleiht. Charles Ives präsentierte Anfang des 20. Jahrhunderts seine zweite Symphonie, in der er zwar – gemäß der damals üblichen Gewohnheit in Amerika, vorwiegend europäische Musik zu spielen – Zitate europäischer Komponisten verwandte, sie aber respektlos mit „amerikanischer Musik“ kombinierte. Das waren die Märsche ebenso wie die Tänze in den Scheunen und die Volksmusik. Respektlosigkeit scheint bei Avni alle Tore zu öffnen. Tänzerisch, mit großer Geste, immer aber mit punktgenauer Kommunikation treibt sie das Orchester zu Spitzenleistungen. Das hat einen Esprit, mit dem sie wohl noch Hänschen klein zu einem Erlebnis gemacht hätte. Allzu bereitwillig folgen ihr die Musiker, wenn sie mit weit ausgebreiteten Armen immer wieder ihre Person zu überhöhen scheint, gezielt einzelne Musiker anspricht, ohne das Große und Ganze auch nur einen Augenblick zu verlieren. Beinahe atemlos folgt auch das Publikum ihrem Einsatz. Endlich ertönt der Bläsereinsatz, der das Vorüberziehen zweier Marching Bands imitiert, ehe er im berühmten Dissonanz-Akkord endet. Das Publikum tobt. Und das will was heißen. Das gefühlte Durchschnittsalter an diesem Abend dürfte irgendwo bei 70 liegen. Egal. Da stehen sie geschlossen auf und applaudieren wie wild. Avni ringt nach Atem, sagt sie – was man ihr nun wirklich nicht glaubt – um für Ruhe zu sorgen und sich nach dem ersten Jahr in einer kurzen Ansprache sichtlich gerührt bei ihrem Orchester für die wunderbare Zusammenarbeit zu bedanken.

Irgendjemand hat vor Konzertbeginn eine Trommel neben das Pult gestellt. Und wenn sie nun schon mal da steht, kann man sie ja auch benutzen. Also rückt Avni sie nach vorn. Es ist Silvester. Da fehlt doch noch etwas, um den Abend wirklich zum Fest werden zu lassen. Selten hat man den Radetzky-Marsch so prachtvoll gehört. Wien hin oder her. Das Trommel-Solo der Dirigentin setzt den besonderen Akzent. Und dass sie am Ende noch das Klatschen des Publikums dirigiert, ist das Sahnehäubchen, das sie schließlich jedem auf dem Nachtisch des Silvester-Schmauses wünscht. Selten hat man so viel Energie bei einem Silvesterkonzert gespürt. Und da möchte man sich gern dem Orchester anschließen, dass zum Schluss wie aus einem Munde wünscht: Ein frohes neues Jahr!

Michael S. Zerban