O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Bilder ähnlich der besuchten Aufführung - Foto © Tom Schulze

Aktuelle Aufführungen

Erlösung jenseits der Welt

TRISTAN UND ISOLDE
(Richard Wagner)

Besuch am
1. Juli 2022
(Premiere am 5. Oktober 2019)

 

Wagner22 in der Oper Leipzig

Unter dem Motto „Drei Wochen Unendlichkeit“ läuft im Zeitraum vom 20. Juni bis zum 14. Juli 2022 an der Oper Leipzig das Festival Wagner22. In der Geburtsstadt Richard Wagners werden alle dreizehn Bühnenwerke in chronologischer Reihenfolge aufgeführt, der Ring des Nibelungen sogar an vier Abenden ohne Unterbrechung, das gibt es noch nicht einmal in Bayreuth. Von den Feen bis zum Parsifal, ein einzigartiges Mammutprojekt, dass auch die Intendanz von Ulf Schirmer krönt. Schirmer selbst, seit 2009 Generalmusikdirektor und seit 2011 Intendant der Oper Leipzig in Personalunion, hat großen Anteil daran, dass das Projekt überhaupt zu realisieren war. Während seiner Amtszeit, die im Juli zu Ende geht, wurden fast alle Werke Wagners neu inszeniert und ins Repertoire aufgenommen. Das Festival ist seit fast einem Jahr ausverkauft, trotz Spitzenpreisen von 250 Euro für eine Karte, was mehr als das Dreifache des sonst üblichen Kartenpreises beträgt. Dafür sind bei diesem Festival neben den bewährten Hauskräften auch viele international renommierte Wagner-Sänger engagiert, die dafür sorgen sollen, dass das Festival tatsächlich auch seinen Namen verdient und die bevorstehenden Wagnerfestspiele in Bayreuth teilweise in den Schatten stellt.

Mit der Premiere von Richard Wagners Tristan und Isolde in der Inszenierung von Enrico Lübbe ist der Oper Leipzig vor knapp drei Jahren ein großer Coup gelungen. Da ist zu einem das Regieteam um Lübbe, seit 2013 Intendant am Schauspiel Leipzig, er gab mit dieser Arbeit sein Hausdebüt an der Oper Leipzig, und am Pult des Gewandhausorchesters stand natürlich Ulf Schirmer. Zwei Leipziger Intendanten erarbeiteten gemeinsam ein Werk, das war einerseits außergewöhnlich, andererseits wiederum symptomatisch für das besondere kulturelle Leben der Stadt. Natürlich steht an diesem Abend wieder Schirmer am Dirigentenpult, der bis auf die drei Frühwerke – Die Feen, Das Liebesverbot und Rienzi – und dem Lohengrin alle restlichen neun Werke während dieses Festivals dirigiert. Diese Inszenierung war bei der Premiere umjubelt worden, nun ist die spannende Frage, ist die Inszenierung immer noch so emotional mitreißend und wie werden sich die Hauptprotagonisten Andreas Schager, Catherine Foster und René Pape szenisch und musikalisch darauf einlassen?

Foto © Tom Schulze

Lübbe und sein Co-Regisseur Torsten Buß tauchen intensiv in die psychoanalytischen Tiefen des Werkes ein, ohne dabei die Macht der Musik und des Gesangs zu vernachlässigen. Das Aufeinandertreffen der Erzähl- und der Realitätswelt lässt Lübbe sowohl optisch als auch spielerisch immer wieder betonen. Während die reale Welt, die helle Tagwelt, als Kammerspiel inszeniert wird, ist die philosophische Nachtwelt, von Schopenhauer und Novalis beeinflusst, Projektionsfläche einer schon transzendenten Ebene jenseits der Welt. Insbesondere der Tod hat in dieser Inszenierung das Bedrohliche, das Endgültige verloren. Für Lübbe und Buß bedeutet er Freiheit, eine Welt diesseits aller Belastungen und Feindlichkeit. Und so gibt es in der Inszenierung ein fast glückliches Ende. Tristan stirbt und stirbt doch nicht. Er steht wieder auf, und während Isolde in den Liebestod sinkt, deutet Tristan mit einer liebevollen Geste auf sie. Am Schluss gehen sie Hand in Hand hinüber in ihre Welt. Ob tot oder lebendig, das spielt in diesem Moment gar keine Rolle mehr. Es sind die vielen kleinen Gesten der Zärtlichkeit, die die Inszenierung so emotional machen, da sie auch mit der Musik im Einklang sind. Hier eine zärtliche Berührung oder Umarmung, dort ein liebevoller Blick. Tristan und Isoldes Beziehung ist von Anfang an auf einer anderen Stufe, als ihre Umgebung es fassen kann. Eine der innigsten und berührenden Momente der Inszenierung ist die Personifizierung des Englischhorns im dritten Aufzug. Es spielt die „alte Weise“, die nur Tristan in seinem Fieberwahn hören kann, die vom Tod seiner Eltern erzählt, die er nie kennengelernt hat und die die nie verheilte alte Wunde und die neue Wunde aufreißt. Dreimal erklingt das Instrument solistisch, elegisch und todestraurig, und der Hornist, Aurélien Laizé, spielt es szenisch auf der Bühne, ohne als extra Figur zu fungieren.

Die Momente der inneren Handlung werden zudem durch ein Tristan-und-Isolde-Double im zweiten Aufzug verstärkt und verdeutlichen die geistige Verschmelzung des Paares. Noch drastischer wird Lübbe dann im dritten Aufzug, als Tristan im Fieberwahn und Delirium seine Isolde herbeisehnt. Zeitweise sind bis zu sieben Isolde-Figuren auf der Bühne zu sehen, die choreografisch auf und abgehen, bis dann die echte Isolde erscheint und Tristan von seinen Qualen erlöst. Und zum Schluss, zu Isoldes Liebestod, steht Tristan quasi von den Toten wieder auf und geht mit Isolde hinüber in eine andere, transzendente Welt. Es ist nicht nur die behutsame Personenregie, die zu diesen schon fast intimen Momenten führt, es ist auch das beeindruckende Bühnenbild von Étienne Pluss, der für die Handlung einen Schiffsfriedhof als zeitlosen und symbolischen Ort schafft, als Metapher für den allgegenwärtigen Tod, aber auch für den Stillstand der Handlung. Das Wrack dient auch als Rückblende der Vorgeschichte, und Isoldes letzte Worte „ertrinken – versinken, unbewusst – höchste Lust“ bekommen hier eine ganz neue Dimension. Lübbe und Pluss schaffen so eine ganz neue Form der Ästhetik, die durch den Einsatz der Drehbühne und den Videoprojektionen Momme Hinrichs und Torge Møller verschiedene Realitäts- und Zeitebenen entstehen lässt: reale sowie überdimensionierte und philosophische. Die Videoprojektionen sind nicht reißerisch gemacht, sie doppeln die Dimension des Bühnenbildes und lassen die Grenzen zwischen den Welten verschwimmen. Es sind Bühnenelemente, Requisiten und Gänge durch das Bühnenbild, die gefilmt wurden und projiziert werden. Unterstützt durch die Drehbühne, die sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegt, verändert sich die Bühnenrealität kontinuierlich. Die darauf abgestimmte Lichtregie von Olaf Freese verstärkt diesen Effekt kongenial.

Das ganze Bild wird eingefasst von einem Lichtrahmen, der als Grenze zwischen den Welten und als Abgrenzung für Tristan und Isolde zur echten Welt dient. Während des Vorspiels sieht man nur das nachtschwarze Bild mit dem hellen Lichtrahmen, und die Assoziation zu Novalis Hymnen an die Nacht wird geweckt. Der Genuss des vermeintlichen Todestranks im ersten Aufzug markiert die erste Zäsur zwischen Erzähl- und Realitätswelt. Tristan und Isolde fallen förmlich aus dem Rahmen, hinter ihnen wird alles schwarz, und das grade noch vorhandene Bühnenbild ist wie ausgelöscht. Die beiden erfahren hier ihre höchste Form des Glücks in ihrer eigenen Welt, die auch von Kurwenal und Brangäne nicht mehr erreichbar ist. Sie bleiben unglücklich mit einem erschütterten und verzweifelten König Marke zurück. Die Kostüme von Linda Redlin sind für die Hauptfiguren eher zeitlos, wobei Isoldes blaues Kleid doch hervorsticht, während die Mannen König Markes wie englische Gutsherren am Ende des 19. Jahrhunderts gekleidet sind.

Regie, Bühnenbild und Kostüme bilden jedoch nur den äußeren Rahmen, die innere Handlung wird durch die Musik und den Gesang ausgedrückt. Und hier beweist Ulf Schirmer am Pult des Gewandhausorchesters zum wiederholten Male, dass er zu den ganz großen Wagner-Dirigenten unserer Zeit gehört. Mit den von Hans von Bülow 1865 vorgenommenen Retuschen der Partitur gelingt ihm ein Klangbild, dass transparent wirkt und die Sänger in den großen Forte-Stellen nicht zudeckt. Berührend sind die symphonischen Elemente wie das Vorspiel zum ersten Aufzug, das filigran und zerbrechlich aus dem Graben ertönt, sowie der Beginn des dritten Aufzuges mit dem schon erwähnten Englischhorn-Solo. Der berühmte dissonante Tristan-Akkord weckt die Hoffnung auf eine verströmende Tonsprache, die so charakteristisch für das Werk ist. So entstehen stimmungsgeladene Bilder, rauschhafte Klänge der Unendlichkeit, die die überwältigenden Gefühle der kaum noch aktiv handelnden Figuren deutlich machen. Schirmer beherrscht die Kunst, Stimmung und Farben zu erzeugen und die Bögen fließen zu lassen. Das gilt besonders für den Tristan mit seinen Liebes-, Todes- und Erlösungsmotiven. Eine insgesamt überragende Leistung des Gewandhausorchesters, auch unter dem Aspekt, bereits schon zuvor sechs Wagner-Werke in den vorangegangen zehn Tagen gespielt zu haben. Ein Sonderlob haben sich neben Aurélien Laizé am Englischhorn Lukas Beno an der Holztrompete und Ingolf Brachmann an der Bass-Klarinette verdient. Damit eine derartige Aufführung zu etwas Besonderem wird, bedarf es natürlich großer Wagner-Sänger, die sich nicht nur stimmlich, sondern auch emotional ganz auf die Sprache der Bilder und der Musik einlassen. Mit Andreas Schager als Tristan, Catherine Foster als Isolde und René Pape als König Marke gelingt das an diesem Abend in grandioser Manier.

Schager gilt als einer der führenden Wagner-Tenöre unserer Zeit, und besonders seine Interpretationen und Darstellungen der Partie des Tristan haben Maßstäbe gesetzt, wie zuletzt an der Wiener Staatsoper. Sein baritonal gefärbter Tenor ist kraftvoll in der Mittellage und ausdrucksstark in den Höhen und strahlkräftig in den dramatischen Ausbrüchen. Mit großer Ausdauer bewältigt er diese Partie, seine „Sehnen, sehnen…“- Rufe gehen förmlich durch Mark und Bein. Er schafft es mühelos, mit seiner kraftvollen Stimme über das Forte des Orchesters zu kommen, ohne dass die stimmliche Präsenz darunter leidet. Seine dramatische Ausdruckskraft und seine physische Bühnenpräsenz in dieser Partie sind beeindruckend, gleiches gilt für seine Textverständlichkeit. Lediglich kleine Textaussetzer wie auch bei Catherine Foster trüben eine ansonsten nahezu perfekte Rollendarbietung. Auch schauspielerisch hat Schager in den letzten Jahren gewonnen, seine Darbietung des Tristan im dritten Aufzug, der im Fieberwahn bis zur totalen Erschöpfung agiert, ist grandios. Eine fast übermenschliche Kraftanstrengung, die Schager da abliefert, mit Tönen und Phrasen, wie man sie heute kaum noch hört und die an glorreiche Zeiten eines Wolfgang Windgassen oder Max Lorenz erinnern.

Für Catherine Foster ist die Rolle der Isolde quasi eine Generalprobe, bevor sie in Bayreuth zur Eröffnung der diesjährigen Festspiele die Partie ebenfalls verkörpern wird. Foster überzeugt mit einer wunderbaren weiten Mittellage, wo sie schöne Farbkontraste erzeugt. Sie hat den Stahl in der Stimme für die dramatischen Ausbrüche, während sie in den lyrischen Passagen mit Geschmeidigkeit und Schönheit aufhorchen lässt. Ihr Liebestod am Schluss gerät zu einer elegischen Darbietung des Strömens und Versinkens, mit einer weltenumarmenden Gestik. Ihr beider Schlussabgang strahlt eine derartige Harmonie und Innigkeit aus, dass hier Richard Wagners großer Liebestraum mit Mathilde Wesendonck plötzlich erlebbar wird. Auch sie gibt ihre Rolle mit großer Spielfreude und starkem Ausdruck.

Foto © Tom Schulze

Für die erkrankte Daniela Sindram springt kurzfristig die Mezzosopranistin Barbara Kozelj in der Rolle der Brangäne ein. Es ist aber kein Sprung ins kalte Wasser, denn Kozelj hatte schon die Premiere gesungen und damals das Publikum im Sturm erobert, das gelingt ihr an diesem Abend erneut. Mit einer warmen Mittellage und strahlenden Höhen ergänzt sich Ihre Stimme mit Catherine Fosters hochdramatischem Sopran auf harmonische Weise und ihr Wachtruf im zweiten Aufzug ist voller Anteilnahme und von Mitgefühl geprägt. Mathias Hausmann als Kurwenal ist mal wieder ein überzeugendes Beispiel, wie man auch aus einer kleineren Rolle ein Optimum herausholen kann und stimmlich wie spielerisch Glanzpunkte setzen kann. Mit seinem warmen, schönfärbenden Bariton setzt Hausmann einen starken Akzent. Ein weiterer Höhepunkt des Abends ist der Auftritt René Papes als König Marke. Neben dem Gurnemanz im Parsifal, den er auch zum Schluss des Festivals Wagner22 geben wird, ist diese Partie eine der Rollen, die Pape so verinnerlicht hat wie kaum ein anderer. Er beeindruckt mit seinem markanten und ausdrucksstarken, schwarzen Bass. Sein Marke ist voller Trauer und Verzweiflung, sowohl über den Verrat Tristans, aber auch über den Verlust der beiden Menschen, die ihm am meisten bedeuten. Die natürliche Autorität, die Persönlichkeit, die Pape ausstrahlt, ist einfach atemberaubend. Mit seinen 57 Jahren hat er jetzt auch die Erfahrung und die Reife, seine Rollen so intensiv zu spielen, dass jede gesungene Note und jede Geste zu einem Erlebnis werden.

Die Rolle des Melot ist mit Matthias Stier gut besetzt, Alvaro Zambrano singt das Klagelied des jungen Seemanns mit ausdrucksstarkem Tenor und großer Textverständlichkeit auf offener Bühne, während Franz Xaver Schlecht den Steuermann mit wohlklingendem Bariton intoniert. Für Martin Petzold war sein Auftritt als Hirte ein ganz besonderer. Nach 35 Jahren Zugehörigkeit zur Oper Leipzig wurde er nach der Aufführung von Ulf Schirmer mit einem Blumenstrauß und einer herzlichen Umarmung in den Ruhestand verabschiedet. Mit ihm verlässt das letzte Urgestein der Leipziger Oper die Bühne, und so mancher der treuen Leipziger Zuschauer hatte in diesem Moment eine Träne im Auge.

Der Chor der Oper Leipzig ist von Alexander Stessin hervorragend eingestimmt und stimmlich wie spielerisch voll präsent.  Nach fast fünf Stunden senkt sich der Vorhang über eine berückende und hoch emotionale Vorstellung, die durch die Gesangssolisten veredelt wird. Enrico Lübbe und sein Team haben den Tristan verständlich und verstehbar gemacht, sie haben vor allem Emotionen und Berührung zugelassen, was auch die Musik ausdrückt. Das internationale Publikum, das zwischenzeitlich immer wieder durch störende Huster negativ auffällt, reagiert mit großem Jubel und erhebt sich am Schluss für das gesamte Ensemble. Es ist eine atemberaubende Vorstellung, einem Wagner-Festival würdig und macht noch mehr Lust auf die verbleibenden Vorstellungen, vor allem auf den Ring.

Andreas H. Hölscher