O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Tom Schulze

Aktuelle Aufführungen

Kleiner, feiner Ring

DER RING AN EINEM ABEND
(Richard Wagner)

Gesehen am
17. April 2021
(Premiere/Live-Stream)

 

Oper Leipzig

Das Wort „eigentlich“ ist leider in der heutigen Zeit ein vielzitiertes, denn es ist meist kombiniert mit dem Wort „aber“. Eigentlich sollte an der Oper Leipzig im April und im Mai zweimal der komplette Zyklus Der Ring des Nibelungen gegeben werden, in der Inszenierung von Rosamund Gilmore. Aber wie schon im vergangenen Jahr fiel die Aufführung der Tetralogie dem Corona-Virus zum Opfer. Auf dem Weg zu Wagner 22 im kommenden Jahr, wenn die Oper Leipzig alle dreizehn Opern Wagners in einem einmaligen Marathon präsentieren möchte, bleibt die Premiere des verkürzten Lohengrin Anfang November letzten Jahres die letzte Wagneraufführung vor Publikum. Aber so ganz ohne Ring wollte man in Leipzig diese Zeit dann doch nicht vorbeigehen lassen. Also ein verkürzter Ring an einem Abend, quasi die Highlights aus über 16 Stunden Musik und Gesang in gut zweieinhalb Stunden komprimiert, und das humorvoll moderiert. Natürlich kann es da nur die eine Fassung geben, die legendäre Version von und mit Loriot. Und wenn schon, dann holt die Oper Leipzig auch das große Tafelsilber heraus. Von wegen Minimalbesetzung, wo alle Protagonisten mehrere Rollen zu singen haben. Stattliche 28 Sänger stehen an diesem Abend auf der Bühne und singen ihre Partien, die sie auch in den Ring-Zyklen zu singen gehabt hätten. Drei Brünnhilden, zwei Wotane, zwei Siegfriede, das ist schon hochkarätig. Wagners große Tetralogie Der Ring des Nibelungen ist vor allem für Einsteiger eine Herausforderung. Vier Musikdramen an vier Abenden, etwa 16 Stunden Musik und lange Monologe, viele Menschen schreckt das einfach ab. Zu lang, zu schwer, zu laut, das sind die gängigen Vorurteile gegenüber Wagners Werken, insbesondere gegenüber dem Ring. Der Wagnerianer hat für solche Aussagen natürlich nur ein müdes Lächeln übrig, schwelgt in Musik und Gesang und genießt jeden Moment. Eine verkürzte Version? Geht gar nicht. Oder doch? Es gibt auch bei Wagner mehr als nur schwarz oder weiß, das gilt besonders für den Ring. Der großartige Bernhard-Viktor Christoph-Carl von Bülow, kurz Vicco von Bülow, besser bekannt als Loriot, hat vor fast 30 Jahren bewiesen, dass man den Ring des Nibelungen gekürzt an einem Abend erzählen kann, ohne dabei darben zu müssen.

Loriots Liebe zu den Werken Wagners war spätestens jedem klar, der den ausgefüllten Fragebogen aus der FAZ von 1982 gelesen hat. Auf die Frage, welche militärische Leistung er am meisten bewundere, war die Antwort des ehemaligen preußischen Offiziers und Kriegsteilnehmers eindeutig wie verblüffend: „Den Ritt der Walküren“. Und bei dem Namen „von Bülow“ dämmert es dem einen oder anderen. Altes mecklenburgisches Adelsgeschlecht, aus dem auch Hans von Bülow stammte, der erste Ehemann Cosima Wagners und Dirigent der Uraufführungen von Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg.

Foto © Tom Schulze

Vielleicht liegt es also an den Familiengenen, dass auch Loriot ein eingefleischter Wagnerianer war, der auf die Frage, wie er denn sterben möchte, geantwortet hat: „Morgendlich leuchtend im rosigen Schein“. Loriot war längst als Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller etabliert, als ihn der damalige Generalintendant des Mannheimer Nationaltheaters, Klaus Schultz, bat, für seine erste Spielzeit 1992 einen Ring an einem Abend zu konzipieren, quasi als Einführung für den kompletten Ring des Nibelungen. Loriot entwarf einen dramaturgischen Plan, indem, so weit wie möglich, alle für das Verständnis wesentlichen Abschnitte der vier Musikdramen berücksichtigt wurden. Über sechs Monate lang arbeitete er an einer Schilderung des Rings, beschrieb die Handlung mit seinem treffsicheren und doch so feinsinnigen Humor, wie nur er sie beschreiben konnte, und es entstand ein Text, der ebenso genau wie liebevoll die verwickelten und verbundenen Elemente des Rings vorstellt, und das durchaus auch mit dem Blick auf die komischen Aspekte. Nach eigenen Angaben sollte der Abend auch dazu dienen, „Wagners Verehrern Lust auf das Ganze zu machen und seinen Gegnern, ihre haltlosen Vorurteile zu bestätigen.“ Dabei findet Loriot viel feine Komik in Wagners gewaltigem Weltuntergangsspektakel, bewahrt aber immer auch tiefen Respekt vor dem Personal und seinem Erschaffer. Zum Raub des Rheingoldes durch Alberich bemerkt Loriot, dass, „wenn die Rheintöchter dem Alberich etwas mehr Entgegenkommen gezeigt hätten, hätte man sich drei weitere aufwendige Opern sparen können“.  Wagners Ring an einem Abend in der Spielzeit 1992/93 in Mannheim mit Loriot als Erzähler auf der Bühne geriet zu einem überwältigenden Erfolg, so dass diese Fassung auch auf CD erschien, mit Ausschnitten aus der legendären Ring-Aufnahme der Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan aus den Jahren 1967 bis 1970.

Die Oper Leipzig hat nun die Loriotsche Fassung des Ring an einem Abend quasi als Ersatz für die beiden ausgefallenen Ring-Zyklen auf den Online-Spielplan gesetzt. Großes Orchester auf der Bühne, Solisten in edler Robe wie bei einer ganz normalen konzertanten Aufführung. Das einzige Requisit auf der Bühne ist ein alter Sessel, Platz für Axel Bulthaupt als Erzähler. Den Leipzigern ist Bulthaupt vor allem durch seine jährlichen Moderationen der José-Carreras-Galas bekannt.

Und Bulthaupt, dessen angenehme Stimme im Timbre durchaus an Loriot erinnert, eröffnet den komprimierten Ring mit dem Zitat: „Die Täter im gewaltigsten Drama der Musikgeschichte sind doch eigentlich ganz nette Leute. Leider wollen diese netten Leute mehr besitzen, als sie sich leisten können und vernichten damit sich selbst und die Welt, aber zum Glück gibt es dergleichen nur auf der Opernbühne.“ So fasst der Meister des feinsinnigen Humors Wagners opus summum in gut drei Stunden zusammen. Ohne Loriots subtilen Wortwitz und Pointierung zu verändern, aber mit eigener Note führt Axel Bulthaupt seriös, aber auch mit einem Augenzwinkern durch Wagners Heldenepos vom berühmten Vorspiel auf dem Grund des Rheins bis zum finalen Brand der Götterburg Walhall. Eines der schönsten Zitate aus dieser Version ist die Szene, wenn Siegfried im dritten Aufzug Brünnhilde erweckt und ihr den Brustpanzer entfernt: „Kaum hat Siegfried das schwere Oberteil geöffnet, wölbt sich ihm der Busen eines hochdramatischen Soprans entgegen. Nachdem sich der Held von diesem Schock erholt hat, macht er eine durchaus richtige Beobachtung: Das ist kein Mann! Zum ersten Mal in seinem Leben empfindet er nackte Furcht und verhält sich wie alle jungen Männer in dieser Situation; er schreit nach seiner Mutter.“ Herrlicher und komischer, ohne Verfälschung des Inhaltes, kann man diese Situation nicht beschreiben. Loriot liebt seinen Wagner, und bei aller Ironie und Wortwitz bleibt der Respekt vor dem Schaffen des großen Komponisten immer erhalten. Bulthaupt gelingt der Spagat, sich einerseits von dem großen Schatten Loriots zu lösen, ihn nicht einfach nur zu kopieren, sondern dem „Erzähler“ eine eigene Persönlichkeit zu geben.

Eingebettet in die Bulthauptschen Erzählungen wird auch gespielt und gesungen, und das auf hohem Niveau. Die Partien des Wotan und des Wanderers werden an diesem Abend durch zwei exzellente, aber in ihrer Stimmlage und ihrem Ausdruck ganz unterschiedliche Sänger besetzt. Tuomas Pursio verfügt über einen edlen Bariton mit schmeichelndem Timbre und einer warmen Mittellage. Eine angenehme und verführerische Stimme, die prädestiniert ist für den arroganten Wotan im Rheingold, gleichzeitig aber auch ideal für die Besetzung des schwachen, dekadenten Gunter in der Götterdämmerung angelegt ist. Iain Paterson als Wotan in der Walküre und als Wanderer im Siegfried begeistert mit seinem dramatisch angelegten Bass-Bariton, mit großem musikalischem Ausdruck und innigem Gesang bei seinem Abschied von Brünnhilde. Lise Lindstrom als Walküren-Brünnhilde weiß mit ihrem klaren, dramatischen Sopran und den leuchtenden Höhen zu überzeugen. Berührend Ihre Todesverkündigung gegenüber Siegmund. Daniele Köhler begeistert mit ihrem kurzen Auftritt als Siegfried-Brünnhilde ebenfalls mit strahlenden Höhen und großem Ausdruck, während Iréne Theorin mit dem Schlussgesang der Götterdämmerungs-Brünnhilde ein furioses Finale gelingt. Michael Weinius, der bei der Lohengrin-Premiere in Leipzig schon mit heldenhaftem Tenor überzeugt hat, beweist auch an diesem Abend, dass die Partie des Siegfried zu seinen bevorzugten Rollen zählt.

Foto © Tom Schulze

Jonathan Stoughton zeigt im Götterdämmerungs-Siegfried, dass man diesen Helden auch etwas lyrischer angehen kann. Ein interessanter Stimmenkontrast zu Michael Weinius. Magdalena Hinterdobler, die in diesem Ring an einem Abend neben der Gutrune auch die Walküre Ortlinde verkörpert, zeigt mit ihrem schon ins jugendlich-dramatische Fach gehenden Sopran, dass ihre Stimm- und Rollenentwicklung eindeutig den Weg in dieses Fach zeigt. Da darf man auf zukünftige Rollen schon gespannt sein. Thomas Mohr überzeugt als listiger Loge mit Stahl im Tenor, Kay Stiefermann setzt mit der Partie des Alberich einen starken Kontrapunkt, insbesondere mit dem Verfluchen des Rings, und Karin Lovelius als Göttergattin Fricka reüssiert mit warmem Mezzosopran. Elisabet Strid begeistert als Sieglinde mit leuchtendem, jugendlich dramatischem Sopran, und Magnus Vigilius mit der Partie des Siegmund vor allem in den dramatischen Ausbrüchen. Ein stimmlich wie optisch wunderbares Trio bilden Olga Jélinková, Sandra Maxheimer und Sandra Janke als die drei Rheintöchter. Sebastian Pilgrim als fieser Bösewicht Hagen weiß mit seinem schwarzen Bass Gänsehaut zu erzeugen. Dan Karlström als Mime rundet ein auf hohem Niveau singendes Ensemble ab, in dem das Oktett der Walküren unbedingt einzureihen ist.

Das Leipziger Gewandhausorchester unter der Leitung seines Generalmusikdirektors, Ulf Schirmer, spielt einen hoch spannenden und stringenten Wagner.  Die lange Zwangspause scheint die Musiker eher zu beflügeln, und die anspruchsvolle Partitur des Ring an einem Abend wird mit großer Leidenschaft gespielt. Unter dem Strich ist es eine grandiose Leistung der Musiker. Schirmer dirigiert das Gewandhausorchester mit energischem Duktus, das Tempo ist gemäßigt. Ohne den Zwang der Regie kann er vor allem in den großen Orchesterstellen schwelgen, während er in der Begleitung der Sänger das Orchester unprätentiös zurücknimmt. Hoch emotional der Trauermarsch, einer der musikalischen Höhepunkte des Abends. Am Schlussakkord der Götterdämmerung, als der Weltenbrand durch den über die Ufer tretenden Rhein gelöscht wird, bevor die Musik sich beruhigt und die Hoffnung auf eine neue Weltenordnung entstehen kann, wird oft vom Dirigenten eine Fermate gespielt, eine kleine Pause, die aber einen Rieseneffekt hat. Schirmer kostet diese Fermate in einer gefühlten kleinen Ewigkeit aus, so dass der Zuhörer Atem schöpfen kann, um den Effekt des Wandels von der Zerstörung zur Erneuerung musikalisch zu begreifen. Gänsehaut pur! Damit steht er diametral zur Aufnahme des Rings unter Herbert von Karajan, der über diese kleine Kunstpause gnadenlos hinwegging.

Ob Loriots Idee, „Wagners Verehrern Lust auf das Ganze zu machen und seinen Gegnern, ihre haltlosen Vorurteile zu bestätigen“ an diesem Abend aufgegangen ist, bleibt natürlich ein Geheimnis. Aber die Version der gekürzten Fassung von Wagners Ring mit den begleitenden Worten Loriots ist für Freunde des fein- und tiefsinnigen Humors genauso ein Erlebnis wie auch eingefleischte Wagnerianer sich über drei Stunden an einem verkürzten Ring erfreuen können. Man kann nur hoffen, dass speziell diese Aufführung bald auch wieder vor Zuschauern gespielt werden kann.

Der Stream wird im Übrigen von neun Kameras übertragen, was zu raffinierten Überblendungen führt, und so trotz aller Abstandsregeln auf der Bühne ein dynamisches und effektvolles Bild zeigt. Auch in der Übertragungstechnik ist man in Leipzig ganz weit vorne. Wie immer bei diesen Streams ohne Zuschauer ist das Schlussbild irgendwie traurig und deprimierend. In Totenstille verbeugen sich die Protagonisten vor den imaginären Zuschauern an den Bildschirmen. Kein Applaus, kein Jubel, das Brot des Künstlers, es ist nicht da, und wäre an diesem großartigen Ring-Abend mehr als verdient gewesen. Was bleibt, ist die Hoffnung auf ein baldiges Ende der Aussperrung der Kultur, denn auch diese Kunst ist eine wichtige Medizin, nämlich für die Seele. Der Leipziger Oper bleibt nur zu wünschen, dass ihr ambitioniertes Projekt Wagner 22 dann wieder vor vollem Haus über die Bühne gehen kann.

Andreas H. Hölscher