O-Ton

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Foto © Tom Schulze

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Eine gegen alle

MARY, QUEEN OF SCOTS
(Thea Musgrave)

Besuch am
16. Dezember 2023
(Premiere)

 

Oper Leipzig

Thea Musgrave, wer? Selbst ein Kenner der Opernliteratur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbindet mit der Komponistin Musgrave, Jahrgang 1928, wenig. Ihre 1977 am King’s Theatre in Edinburgh im Auftrag der Scottish Opera uraufgeführte Oper Mary, Queen of Scots reüssiert in der Inszenierung von Ilaria Lanzino an der Oper Leipzig als Wiederentdeckung.

Jahrzehnte nach jener der schottischen Premiere sich anschließenden Tournee der Produktion im Mai 1980 an der Staatsoper Stuttgart sowie nach der 1984 erstmaligen deutschen Neuproduktion der Städtischen Bühnenoper Bielefeld verspricht Leipzig in programmatischer Diktion vorab viel: Packendes Musiktheater trifft auf historischen Krimi und verspricht mit dem Anspruch auf Klimaneutralität große Oper! Eine anspruchsvolle Formulierung, die neben der musikalischen Qualität weitere Themen des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses in den Mittelpunkt rückt.

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Man konnte deshalb vor der Premiere gespannt sein, wie sich Musgraves Komposition aus den Hochzeiten von Stockhausen, Ligeti und Lutoslawski mit einer ambitionierten Political Correctness zu einem musikalisch inszenatorischen Ganzen fügen würde. Der Dirigent Matthias Foremy verortet, wie im Programmbuch vorab zu lesen ist, Mary, Queen of Scots in der Tradition von Britten, Hindemith oder Ives. Konsequent ausgerichtet an einer authentischen Gestaltung der erzählten Geschichte, die mit ihrer realistischen Dramatik vom Orchester des Gewandhauses vorangetrieben wird.

Mary, Queen of Scots erzählt die Vorgeschichte des Königinnendramas Maria Stuart von William Shakespeare in einem von Musgraves selbst verfassten, die historischen Kontexte relativ frei variierenden Libretto. Erzählt wird das Leben der schottischen Königin. Mit fünf Jahren wird sie gezwungen, nach Frankreich zu fliehen. Sie heiratet den französischen Thronfolger. Mit seinem frühzeitigen Tod wird sie zur Witwe. 18-jährig kehrt sie nach Schottland zurück, um ihr schottisches Thronerbe einzufordern. Der Schwerpunkt in Musgraves Oper fokussiert auf den sieben Jahre währenden Machtkampf mit ihrem Halbbruder James Stuart und den ihr feindlichen gesinnten Lords bis zu ihrer erzwungenen Flucht 1568 nach England.

Lanzino inszeniert ein blutrünstiges, deprimierend pessimistisch luzides Spektakel, das an das Musical The Rocky Horror Show von 1974 erinnert. Der Titel Mary, Queen of Scots und die Zeit der Komposition legen nahe, die Oper selbst musicalaffin anzusehen. Die schwarz verhangene Bühnenarchitektur von Dirk Becker zeigt übereinander getürmte, sich ineinander verhakende Tische, die zu Rutschbahnen mutieren. Liebe, Mord und Totschlag, unterfüttert mit exzessiver Gewalt und sexistisch affirmativ grenzwertigen Vergewaltigungsszenen sowie slapstickartigen Figurationen in Form von Tableaux vivants, enthält die Oper alle Zutaten eines erfolgreichen Musicals.

Mary, verfolgt von den radikalen Machtansprüchen ihres Halbbruders James, von den rivalisierenden Lords, auf deren Zustimmung sie als Königin angewiesen ist, bedrängt, heiratet ihren Cousin Lord Darnley. Aus Liebe, aus Not? Jedenfalls von allen keineswegs akzeptiert. Letztendlich manövriert sich die Königin selbstkorrumpierend in eine Sackgasse.

In Lanzinos Inszenierung bleibt offen, ob sie vom Mob des schottischen Volkes gelyncht wird oder, wie es historisch überliefert ist, nach England flüchten kann. Verkörpert vom Chor der Oper Leipzig, von Thomas Eitler-de Lint relativ eindimensional gestimmt, singt er in der Pose protestierender Alternativer aktionistisch mit unentschlossenem Lamento. Die Kostüme von Annette Braun erinnern an Straßenbau-Arbeiter. Auf den Rücken sind entsprechende Parolen gemalt: „No Jobs. Stop Streaming. Too much assure.“

Insgesamt sucht die Inszenierung in Musgraves fragmentiertem, teilweise von rhetorischen Leerformeln verfasstem Libretto einen schlüssigen Erzählgestus. Dem legt sich Musgraves Behauptungsnarrativ immer wieder in den Weg. Insbesondere nach dem Chaos des ersten Aktes von Marys Ankommen, dem ersten Mord an ihrem Vertrauten Kardinal Beaton bis zu ihrem merkwürdig motivierten Liebesverlangen nach Darnley formt sich erst mit dem zweiten Akt eine gewisse Konsequenz des Erzählbaren angesichts der Behauptungen.

Das szenische Durcheinander transzendiert musikalisch in einem Nebeneinander einer Phalanx neo-klassisch freitonaler Klangsprachen. Sie verwendet historische Tanz-Marschrhythmen, Fiddle Music und jubelnde Krönungschöre sowie französisch barock anmutende Tänze. Foremy lotet mit dem Gewandhausorchester diese Pointierungen häufig mit übermäßig lauten Tempi aus. Großflächige Blech-Tutti, ergänzt mit Harfe, Truhenorgel und Schlagwerk, lassen den Sängern mitunter wenig Raum.

Foto © Tom Schulze

Aus einem umfangreichen Solisten-Ensemble ragt Nicole Chevalier mit einer nicht durchgängig differenzierten Bühnenpräsenz heraus. Die Darstellung von Marys Wandlungen von hoffender Zuversicht, das Volk und die Lords – kostümiert wie Wiedergänger aus dem Cabinet des Dr. Caligari, frisiert in der Anmutung von Samurai-Kämpfern – mögen sie als Königin akzeptieren bis zu einer an ihrem eigenen Machtwillen zerbrechenden Frau, lebt von dem fabulierten Libretto-Konstrukt. Die Schwierigkeiten, diese Momente nachvollziehbar spielerisch darzustellen, ist vielleicht eine der Erklärungen dafür, warum diese Oper bisher keinen Platz auf deutschen Opernbühnen gefunden hat.

Chevaliers gesangliche Interpretation meistert von träumend liebeswonnigen, lyrischen Sopran-Koloraturen bis zum final schreienden Aufbegehren die Herausforderungen mit Bravour. Dass für den erkrankten Sven Hjörleifsson als Earl of Bothwell innerhalb von 24 Stunden mit Eberhard Franceso Lorenz ein Ersatz gefunden wurde, rettet die Premiere. Gleichwohl kann sein durchaus nobler, von wenigen vokalen Unstimmigkeiten abgesehener Gesang vom linken Bühnenrand keine rollengerechte Spielsituation ersetzen. Regisseurin Lanzino übernimmt den stimmlosen Bothwell-Part mit einer überschaubaren schauspielerischen Variabilität.

Franz Xaver Schlecht gewinnt als James Stuart erst mit der dramatischen Zuspitzung in der Auseinandersetzung mit Mary auf Tod und Leben eine charakterisierende Struktur. Dagegen überzeugt Sejong Chang als Riccio, Liebhaber, Vertrauter und Chansonier, in seinem kurzen Auftritt, bis auch er als Mordopfer von der Bühne geräumt wird, mit Charisma und Stimme. Rupert Charlesworth als versoffener Ehemann Marys spielt sich in diesen changierenden Charakter, je länger die Aufführung vorangeht, nachhaltig rollengerecht hinein.

Am Ende bleibt ein großes Fragezeichen, ob sich nach der Leipziger Premiere Mary, Queen of Scots auf deutschen Opernbühnen durchsetzen wird. Nimmt man den großen Applaus der Premierengäste als Maßstab, könnte es möglich sein. Ob die Selfies, die eifrig in den beiden Pausen vor dem Weihnachtsbaum im Foyer geschossen wurden, dafür anzusehen sind, sei dahingestellt.

Peter E. Rytz