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Wenn man Richard Wagner gefragt hätte, was in seinen Werken denn wichtiger sei, das Wort oder die Musik, dann hätte er sicher geantwortet, dass für ihn beides gleichrangig sei und seine Bühnenwerke als musikdramatische Gesamtkunstwerke zu verstehen seien. So musikalisch interessant ein Ring ohne Worte auch sein mag, das Werk ist und bleibt unvollständig. Andererseits gibt es vor allem im italienischen Fach Opern, die musikalisch hinreißend sind, wohingegen man über das Libretto lieber den Mantel der Nächstenliebe decken sollte. Und so ist es der alte Streitfall der Musikgeschichte, den Richard Strauss in seiner letzten Oper aufs Tableau bringt: „Wort oder Musik?“ Wem gebührt der Vorrang in der Oper? Mit seiner letzten Oper gibt Strauss vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs seine durchaus nicht unumstrittene Antwort auf die Frage nach der Stellung des Künstlers in der Gesellschaft. Doch Capriccio, als „Konversationsstück mit Musik“ untertitelt, ist keineswegs langweilige Theorie, sondern ein farbenreiches, amüsantes Kammerspiel, in dem der Komponist über den gewitzten Dialogen aus der Feder des Dirigenten und Librettisten Clemens Krauss raffiniert auf 300 Jahre Musiktheater zurückblickt. Das Werk wurde zur Summe von Richard Strauss’ kompositorischem Schaffen und seinem Abschied von der Oper. Für ihn selbst, dem Komponisten von so großen Bühnenwerken wie dem Rosenkavalier, der Elektra, der Salome und der Frau ohne Schatten war dieses Werk überhaupt nicht für die große Bühne konzipiert.
In einem Brief vom 12. Oktober 1941 schrieb Strauss an Clemens Krauss: „Vergessen Sie nicht: Capriccio ist kein Stück fürs Publikum, wenigstens nicht für ein Publikum von 1800 Personen pro Abend. Vielleicht ein Leckerbissen für kulturelle Feinschmecker, musikalisch nicht sehr bedeutend, jedenfalls nicht so wohlschmeckend, daß die Musik darüber hinweghilft, wenn sich das große Publikum für das Buch nicht erwärmen sollte. In Ihrer Mitarbeiterfreude überschätzen Sie freundlicher Weise, glaube ich, das Stück. Buch und Musik zusammen (wenn man jedes Wort Text versteht, Sie die Philharmoniker dirigieren und Ihre Leibgarde singt), dürfte einen für bessere Leute angenehmen Abend ergeben – an die eigentliche Bühnenwirksamkeit im gewöhnlichen Sinne glaube ich nicht und an einen wirklichen Premierenerfolg im normalen Hoftheaterrahmen auch nicht“. Die Premiere von Capriccio fand schließlich unter der Schirmherrschaft des Reichsministers Joseph Goebbels am 28. Oktober 1942 im Münchner National-Theater statt und wurde dort bis zur Zerstörung des Münchner Opernhauses am 2. Oktober 1943 mit großem Erfolg gespielt.
Foto © Kirsten Nijhof
Dieses „Konversationsstück“ hat aber nicht nur die grundlegende Streitfrage um Wort oder Musik zum Inhalt, denn natürlich geht es dabei auch um Liebe und Gunst, um Hingabe und Zurückweisung, und so wird aus einer Streitfrage schon sehr bald ein existenzielles Spiel um Macht, um Erfolg und Niederlage. Anlässlich der Vorbereitungen ihrer Geburtstagsfestlichkeiten hat die junge, verwitwete Gräfin Madeleine den Komponisten Flamand und den Dichter Olivier in ihr Schloss in der Nähe von Paris geladen. Beide beobachten, wie die Gastgeberin hingebungsvoll einem Streichsextett lauscht, das Flamand für sie komponiert hat. Beide, Komponist und Dichter, lieben die Gräfin und ereifern sich über die Frage, ob Wort oder Musik den Vorrang habe: „Prima le parole, dopo la musica oder Prima la musica, dopo le parole“. Der Theaterdirektor La Roche, der während des Konzerts geschlafen hat, hält nichts von solchen Auseinandersetzungen. Er ist auf dem Schloss, um ein Schauspiel von Olivier für die Festlichkeiten in Szene zu setzen. Madeleine tritt, begleitet von ihrem Bruder, dem Grafen, dazu. Auch sie weiß nicht, welcher Muse sie den Vorzug geben, ob sie sich für Flamand oder Olivier entscheiden soll. Der Graf hat es dagegen leichter, er liebt die berühmte Schauspielerin Clairon, die an diesem Tag zu einer Probe erwartet wird. Clairon und der Graf wetteifern im wechselseitigen Rezitieren eines Sonetts aus Oliviers neuem Schauspiel. Flamand wiederum fühlt sich durch die Worte zum Komponieren inspiriert und enteilt, während Olivier die Gelegenheit nutzt, um der Gräfin vergebens eine Liebeserklärung zu machen.
Flamand kehrt zurück und trägt Oliviers vertontes Sonett vor. Madelaine ist begeistert und nimmt es als Geschenk beider an. Olivier wiederum besucht die Einstudierung seines Stückes durch den Theaterdirektor La Roche. Nun erklärt Flamand seinerseits Madeleine seine Liebe und wird zu einem Rendezvous am nächsten Tag um elf Uhr in die Bibliothek bestellt. Nachdem sich alle wieder im Salon versammelt haben, präsentiert La Roche eine junge Tänzerin sowie ein italienisches Sängerpaar dem erlesenen Kreis. Die Diskussion um die Vorherrschaft der Künste flammt wieder auf. Mit großer Emphase plädiert La Roche dafür, dass sich alle Künste auf der Bühne der Inszenierung unterzuordnen haben; außerdem fehle es an Werken, die echte und wahre Menschen darstellen. In seiner Ansprache Holà! Ihr Streiter in Apoll entwickelt La Roche seine Vision eines wahrhaftigen wie lebens- und kraftvollen Theaters – und teilt auch gleich noch die Inschrift, die einst auf seinem Grabstein stehen werde, mit.
Der Graf macht zur Überraschung aller den Vorschlag: „Schildert euch selbst! Die Ereignisse des heutigen Tages – was wir alle erlebt –.“ Flamand und Olivier erhalten den Auftrag, eine entsprechende Oper zu verfassen. Die Künstler sind begeistert und brechen zur Heimreise nach Paris auf, der Graf begleitet Clairon und Madeleine bleibt allein zurück. Ihr Urteil bleibt vage: „Ihre Liebe schlägt mir entgegen, zart gewoben aus Versen und Klängen. Soll ich dieses Gewebe zerreißen?“ Als der Haushofmeister meldet, dass Olivier am folgenden Tag um elf in der Bibliothek auf sie warte, fällt ihr ein, dass sie Flamand um dieselbe Zeit dorthin bestellt hat; für wen soll sie sich entscheiden? „Wählt man einen, verliert man den anderen.“
Foto © Kirsten Nijhof
Neben den Musikdramen Richard Wagners sind es vor allem die Opern von Richard Strauss, denen sich der Leipziger Intendant und Generalmusikdirektor Ulf Schirmer verschrieben hat. Mit Capriccio, das Schirmer selbst als sein Magenstück bezeichnet, fügt er dem Leipziger Strauss-Kanon nun ein weiteres Bühnenwerk hinzu, dass als konzertante Aufführung seine Premiere feiert, ohne Publikum und Pause, aber dafür zweieinhalb Stunden im Live-Stream. Und was die Oper Leipzig dafür aufgefahren hat, das reiht sich in die ganz großen Opernmomente der letzten Jahre ein. Angefangen mit dem wunderbaren Streich-Sextett zu Beginn der Oper, über das dahinperlende Parlando, den scheinbar schwerelosen Gesprächston, Fuge, Sonett und Oktett bis hin zum poetischen Mondscheinstück und dem sentimental-ironischen Finale. Wie fragt die unentschiedene Gräfin zum Ende ihr Spiegelbild? „Kannst du mir helfen, den Schluss zu finden für ihre Oper? Gibt es einen, der nicht trivial ist?“ Es ist zweifelsohne der Abend der Camilla Nylund, die mit Fug und Recht als eine der führenden Strauss-Sängerinnen unserer Zeit gilt. Mit der Partie der Kaiserin in der Frau ohne Schatten an der Wiener Staatsoper scheint sie ihre Paraderolle gefunden zu haben, der sie nun mit der Partie der Gräfin Madeleine eine weitere Facette hinzufügt. Ihr dramatischer Sopran ist von einer großen Tragfähigkeit, der mit weit gesponnenen Bögen und leuchtenden Höhen eine lyrische Leichtigkeit erzeugt, und doch von großer Durchschlagskraft ist. Ihre Darstellung und ihre Ausstrahlung ist geprägt von einer natürlichen Grandezza. Mit so einer Bühnenpartnerin an seiner Seite wächst an diesem Abend das ganze Ensemble über sich hinaus. Patrick Vogel gibt mit lyrischem Tenor und Belcanto-Gesang den Komponisten Flamand, während Jonathan Michie mit noblem Bariton die Künste des Dichters Olivier preist. Einen besonderen Eindruck hinterlässt Sebastian Pilgrim als Theaterdirektor La Roche. Mit seinem kräftigen und markanten Bass ist er stimmlich wie optisch ein beeindruckender Künstler, und den La Roche gibt er nicht nur mit viel Leidenschaft und Nachdruck, sondern auch mit sauberer und schöner Deklamation. Kathrin Göring, die in den vergangenen Jahren in Leipzig vor allem als Wagner-Interpretin gewachsen ist, zeigt mit der Rolle der Schauspielerin Clairon, dass Sie nicht nur über einen ausdrucksstarken Mezzosopran verfügt, sondern auch in puncto Rezitation und Deklamation keinen Vergleich zur sprechenden Zunft scheuen muss.
Liudmila Lokaichuk überzeugt mit leichtem und hellem Sopran als italienische Sängerin, während Alvaro Zambrano mit ausdrucksstarkem Tenor ihren italienischen Counterpart darstellt. Roman Trekel in der Besetzung des Grafen darf mit seinem markanten Bass-Bariton schon als Luxusbesetzung angesehen werden. Sven Hjörleifsson als Monsieur Taupe, Martin Blasius als Haushofmeister und James Moellenhoff als Diener reihen sich gesanglich in das hohe Niveau des Ensembles ein.
Ulf Schirmer am Pult des Gewandhausorchesters zeigt an diesem Abend wieder einmal, dass er nicht nur ein herausragender Wagner-Dirigent ist, sondern auch ein bedeutender Strauss-Interpret. Was er aus diesem Werk, aus dieser sinfonischen Klangmalerei an Schönheit und Tiefgang herausarbeitet, das ist von allerhöchster Güte. Sein Dirigat ist differenziert, jeder Schlag nachvollziehbar, und er nimmt große Rücksicht auf die anspruchsvollen Gesangspartien, so dass die Sänger bei ihm im Vordergrund stehen. Schirmer kann schwelgen, aber er beherrscht genauso die großen kammermusikalischen Momente der Partitur, die er dann filetiert und punktiert herausarbeitet und symphonische Tondichtung, orchestrale Opulenz und kammermusikalische Intimität an einem Abend gleichermaßen anbietet. Und das Gewandhausorchester setzt seine Vorgaben mit Brillanz und großer orchestraler Klanggewalt um. Das einzige, was an diesem Abend fehlt, ist der Jubel und der Applaus des Publikums, den Sängerensemble, Orchester und Dirigent ohne jegliche Einschränkung verdient gehabt hätten. So ist der Abend ein musikalischer Hochgenuss, und die Frage „Wort oder Musik“ stellt sich nicht, oder um mit Wagner zu sprechen, es ist das Gesamtkunstwerk, was zählt. Man kann nur hoffen, dass es bald wieder möglich sein wird, ins Theater zu gehen, denn dieses Werk in dieser Besetzung verdient ein Publikum vor Ort.
Andreas H. Hölscher