O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

In einer anderen Welt

DONNERSTAG AUS LICHT
(Karlheinz Stockhausen)

Besuch am
14. Juli 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Sülztalhalle, Kürten

Warum sich eigentlich über die katastrophalen Zustände auf den Flughäfen ärgern, die täglich gemeldet werden? Auf der Seite des Rheinischen Kultursommers gibt es Veranstaltungstipps vom 21. Juni bis zum 23. September. Da kann man diesen wunderbaren Sommer im Rheinland doch mal genießen, ohne überhaupt einen Fuß außer Landes zu setzen. Tagsüber auf dem Balkon oder im Freibad, abends mal die kulturellen Veranstaltungen des Sommers besuchen. Vielleicht ist das nicht ganz so billig wie der Urlaub auf Malle, aber eine gute Gelegenheit, mal das Rheinland zu durchstreifen und vielleicht Ecken der Heimat kennenzulernen, die man sonst nie entdeckt hätte.

Die Heimat des Komponisten Karlheinz Stockhausen war von 1965 bis zu seinem Tod 2007 die Gemeinde Kürten im Rheinisch-Bergischen Kreis, rund 30 Kilometer von Köln entfernt. Dort finden seit 24 Jahren Sommerkurse und Aufführungen statt. Die Besonderheit der Veranstaltung „besteht in der weltweit einzigartigen Kombination aus Konzerten, Meisterkursen, Kompositionsseminaren und wissenschaftlichen Symposien, die sich an ein größeres internationales Publikum richtet“. Auch in diesem Jahr gibt es neun Konzerte, die das Kompositionsschaffen Stockhausens zum Thema haben.

Von der Autobahn geht es in die Serpentinen nach Altenberg hinab, ja, das ist der Ort mit dem berühmten Dom. Früher ein Paradies für Motorradfahrer, sind die Serpentinen längst entschärft. Bevor man zum Dom, Stätte zahlreicher Musikveranstaltungen, kommt, geht es rechts den nächsten Berg hoch nach Odenthal. Hier führen enge Straßen über Berggrate und erlauben grandiose Ausblicke auf das Bergische Land, ehe es wieder hinabgeht nach Kürten zum Schulzentrum. Das liegt ein wenig versteckt und beherbergt die Sülztalhalle. Was nach einem Musikzentrum klingt oder wenigstens einer Allzweck-Stadthalle, entpuppt sich als die Sporthalle des Schulzentrums. Spätestens, wenn man die Serpentinen unfallfrei hinter sich gebracht hat, fühlt man sich in einer anderen Welt. Knapp 20.000 Einwohner umfasst die Gemeinde Kürten, die sich auch Stockhausen-Gemeinde nennt und redlich bemüht, touristischer Anziehungspunkt zu sein. Da werden Wanderwege, Wellness und Golf angeboten. Auf dem Sportplatz vor dem Schulzentrum herrscht reges Treiben in den Abendstunden. „Ich glaube, ich bin hier der einzige aus dem Ort“, sagt ein Kürtener angesichts der ansehnlichen Gästeschar, die sich vor der Turnhalle versammelt. Wirklich kann man jede Menge Fremdsprachen in dem Gemurmel auf dem Schulhof ausmachen. Pünktlich werden die Tore geöffnet, um die Gäste einzulassen.

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In der Halle ist an der Längsseite entlang eine Bühne aufgebaut. An der Rückseite verlaufen zwei Wände, die hintere durchgängig, die vordere durchbrochen, so dass sie Auf- und Abgänge der Akteure erlaubt. Bis auf einen Synthesizer auf der linken Seite und ein Gestände mit Klanginstrumenten ist die Bühne leer. Etwa in der Mitte des Raumes steht das Technikpult inmitten der Besucherstühle. Oper soll es heute Abend geben. Na, zumindest Ausschnitte einer Oper, von denen die Veranstalter glauben, dass sie auch für sich als Einzelwerke stehen. Ein gutes Vierteljahrhundert hat Karlheinz Stockhausen an Licht – Die sieben Tage der Woche gearbeitet. Das ist umso beeindruckender, als der Komponist nichts dem Zufall oder einem Regisseur überlässt. Von der Kleidung über die Bewegung, die Mimik und Gestik bis zur Musik ist hier alles durchkomponiert. Vielleicht einer der Gründe, warum Aufführungen der Werke vergleichsweise selten sind. Welcher Regisseur will sich schon mit Fleißkärtchen in der Abarbeitung von Anweisungen statt mit kreativen Einfällen profilieren?

Heute stehen Auszüge aus Donnerstag aus Licht auf dem Programm. An diesem Tag steht Michael im Vordergrund. Der religiöse Name ist ebenso wenig Zufall wie die biografischen Akzente. Michael lernt von seinem Vater das Handwerk, von der Mutter die Liebe zur Musik. Der Vater wird im Krieg erschossen, die Mutter endet in einer Nervenheilanstalt. Michael muss bei seiner weltumspannenden Reise in sieben Stationen drei Examina ablegen, um für das Leben gerüstet zu sein. Stockhausen bekräftigt hier noch einmal seine Auffassung, dass Prüfungen für das Leben wichtig sind, weil sie zur Selbstdisziplin zwingen. Disziplin und höchste Konzentration benötigen auch die Akteure auf und vor der Bühne. Das wird bereits im ersten Stück des Abends deutlich. Halt ist ein wunderbares Duett, „gesungen“ von Marco Blauuw an der Trompete und Florentin Ginot am Kontrabass. Hier müssen die Musiker nicht nur ihre Instrumente virtuos beherrschen, sondern auch genaue Bewegungsfolgen einhalten, um die räumlichen Bezüge der Musik in der Annäherung herzustellen. Das gelingt ganz wunderbar.

In Argument tritt Michael noch als Einzelperson auf. Tenor Hubert Mayer stellt dabei stellvertretend für alle Akteure: Er hat hier nicht mal eben eine Rolle einstudiert, sondern beschäftigt sich intensiv und über einen langen Zeitraum mit dem Schaffen Stockhausens. Anders wäre wohl die Qualität des Abends auch kaum zu erreichen. Nun aber liefert er sich ein Wortgefecht mit Nicholas Isherwood. Der Bass ist als Luzifer unterhalb der Bühne aufgetaucht. Zu den Klängen des Synthesizers, den Patricia Martins bedient, spricht er also bildlich aus dem Schlund der Hölle mit Michael.

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Der wird in Vision gleich verdreifacht. Trompeter Paul Hübner verleiht ihm die Klangfarbe, die ihm über das gesamte Werk zugedacht ist, Emanuelle Grach verbildlicht tänzerisch sein Gefühlsleben, während Mayer wieder den stimmlichen Part übernimmt. Dass alle drei in einer modifizierten Ordenstracht auftreten, verstärkt den religiösen Eindruck. Nach rund einer Dreiviertelstunde macht sich im Publikum nicht etwa Erschöpfung breit, vielmehr freuen sich die Besucher nunmehr auf Musik vom Band. Nach der Pause erlischt das Licht, einzig ein „Mond“ leuchtet als runder, gelblicher Kreis auf der Rückwand der Bühne. So hat Stockhausen sich die Präsentation von Unsichtbare Chöre vorgestellt, weil er davon ausging, dass die Klänge umso intensiver wirkten. Was er dabei nicht bedacht hat: Nach einem langen Tag in einem abgedunkelten Saal zu sitzen und 50 Minuten lang Chorgesängen zu lauschen, intensiviert vor allem eines: die Müdigkeit. Dabei ist das Stück zum Zeitpunkt seiner Entstehung 1979 ein wahres technisches Meisterwerk. Das hatte es bis dahin noch nicht gegeben. Wochenlang nahm Stockhausen verschiedene Stimmgruppen auf – der WDR-Rundfunkchor half ihm dabei – und mischte sie anschließend so ab, dass er selbst behauptete, dieser Chorgesang sei live nicht aufführbar. Die Behauptung der Unaufführbarkeit einer Komposition ist vermutlich so alt wie die komponierte Musik selbst, und auch hier darf man Zweifel äußern. Das ändert aber nichts daran, dass vor allem das räumliche Klangerlebnis, das Kathinka Pasveer in der Klangregie steuert, ausgesprochen eindrucksvoll ist. Was vermutlich heute jeder bessere Filmkomponist am Computer herzustellen vermag, konnte sich vor gut vierzig Jahren kaum jemand überhaupt vorstellen. Und die Verteilung der Stimmgruppen auf die einzelnen Lautsprecher wirkt bis heute wie ein akustisches Wunder. Das beeindruckt auch das anwesende Publikum zutiefst.

Bis heute ist Licht nicht zusammenhängend aufgeführt worden. Aber die an diesem Abend aufgeführten Fragmente sind immerhin eine Praline aus der großen Konfektschachtel, die die Lust an der Süßigkeit befeuert. Und die Rückreise über Serpentinen, die sich nun im Dämmerlicht über die Hänge winden, hinterlässt noch einmal einen ganz eigenen Eindruck von einem Abend, den man sich gönnen sollte. Drei Konzerte stehen an den folgenden Tagen noch an.

Michael S. Zerban