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Aktuelle Aufführungen

Friede sei ihr erst Geläute

ULRICH MATTHES LIEST SCHILLER-BALLADEN
(Friedrich Schiller, Christian Morgenstern)

Besuch am
10. Juli 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Krefeld-Pavillon, Krefeld

Der Krefeld-Pavillon entstand 2019 als Auftragsarbeit des Vereins Projekt Mies van der Rohe in Krefeld. Der Düsseldorfer Künstler Thomas Schütte erhielt den Auftrag, eine begehbare Skulptur zu entwickeln, die Platz für Ausstellungen bot. Auf 200 Quadratmetern baute Schütte einen Rundbau aus Lärchenholz mit einem Kupferdach. Inzwischen hat die Stadt beschlossen, dass das Kunstobjekt, das zum 100-Jahresjubiläum des Bauhauses gebaut wurde, seinen Standort im Kaiserpark in unmittelbarer Nähe zu den Bauhaus-Museen Haus Lange und Haus Esters bis zum Stadtjubiläum Ende 2023 beibehalten soll. Das bedeutet einerseits, dass die leicht asiatisch anmutende Konstruktion weiter in schönem Umfeld zu bewundern ist, andererseits sollte sie dann auch entsprechend bespielt werden. Kurzfristig wurde die Kulturmanagerin Silke Zimmermann beauftragt, eine Veranstaltungsreihe zu kuratieren, die sie binnen Wochen auf die Beine stellte.

Ehe drei Konzerte die ungewöhnliche Spielstätte bis Ende September mit Klang erfüllen, eröffnet eine Lesung die vierteilige Veranstaltungsreihe. Dazu hat Zimmermann den Schauspieler Ulrich Matthes eingeladen, der seit vielen Jahren ein Programm vorträgt, das insoweit überrascht, als man es an mindestens jedem zweiten Gymnasium in Deutschland als Standardprogramm vermuten möchte. Tatsächlich scheint es einzigartig zu sein. Der 63-jährige Matthes, einer der bekanntesten deutschen Schauspieler und Synchronsprecher, liest Balladen und Gedichte von Friedrich Schiller. Auch das eine Überraschung. Ein Schauspieler, zumal der alten Schule, der nicht in der Lage ist, Gedichte von Schiller auswendig vorzutragen, sondern vom Blatt lesen muss. Nun denn, wenn es der Qualität dient.

90 Stühle sind in dem Rundbau aufgestellt, und keiner bleibt an diesem Abend leer. Was ja in diesen Zeiten erst mal eine gute Nachricht ist. Nachdenklich stimmt die Zusammensetzung des Publikums. Es scheint sich hier um einen überwiegenden Teil an Lehrerinnen zu handeln, die seit vielen Jahren im Ruhestand sind. Jüngere, lyrikbegeisterte Menschen sucht man vergebens.

Nach ein paar einleitenden Worten, bei denen man auch erfährt, dass der Schauspieler beim Theater Krefeld Mönchengladbach sein erstes Festengagement hatte, beginnt Matthes den Abend mit dem Ring des Polykrates. Die aus dem Jahr 1797 stammende Ballade lässt sich auf die Botschaft herunterbrechen: Je höher du steigst, desto tiefer fällst du. Sie ist ein gutes Beispiel dafür, warum sich diese Kunstform so lange großer Beliebtheit erfreute. Sie kann pointieren und verdichten. Matthes bezeichnet sie aus gutem Grund als Minidrama – und trägt sie auch bewusst so vor. Anschließend folgt der Handschuh, eine wunderbare Metapher über die Respektlosigkeit, die aus dem gleichen Jahr, nämlich dem Jahr des freundschaftlichen Wettstreits zwischen Schiller und Johann Wolfgang von Goethe um die besseren Balladen. Natürlich kann man selbst bei einer Lesung nicht ununterbrochen Gedichte vortragen, und so moderiert Matthes immer wieder, indem er kleinere Anekdoten erzählt oder Fremdworte aus den Balladen kurz erklärt. Dazu gehört auch die Überleitung, in der eine Schülerklasse während einer Lesung im Frankfurter Theater am 31. Oktober 2012 durch große Unruhe auffiel und von Matthes zur Ordnung gerufen wurde. Die Schulklasse entschuldigte sich eine Woche später mit einem Brief, in dem sie ihm auch das Gedicht aufschrieb, das er fortan in das Programm einbaute. Das Glück entstand 1799. Poesie in Höchstform. Das konnte der junge Konstantin Wecker besser als Matthes. Der ist wieder ganz in seinem Element, wenn er den Taucher, ebenfalls aus dem Jahr 1797, vorträgt. Bei dem Stück über die menschliche Gier funktioniert der Erzählstil.

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Nachdem Matthes bis hierhin vom Blatt gelesen hat, wirft er die Frage in die Runde, wer eine Ballade auswendig rezitieren könne. Das hat schon was. Betty meldet sich, um wahrheitsgemäß zu antworten, dass sie eine Ballade aus dem Kopf wiedergeben könne. Was Schönes von Uhland, sagt sie. Natürlich zielte die Frage des Schauspielers darauf ab, ob jemand etwas von Friedrich Schiller aufsagen könne. Und so kommt Betty mit Uhland nicht durch, kann aber dann mit Christian Morgenstern punkten. 1910 erschien sein Gedicht Das Butterbrotpapier, bei dem ein Butterbrotpapier zu Hirn gelangt. Es bekommt ihm nicht, sorgt aber im Pavillon für Heiterkeit. Die Überleitung zum nächsten Klassiker fällt Matthes leicht. In Weimar nämlich konnte ein Herr die Glocke auswendig vortragen. Er hatte sie kurz vorher zuliebe seiner 85-jährigen Mutter gelernt. Es gab eine Zeit, da war es eine Selbstverständlichkeit, dass Schüler das Lied von der Glocke aus dem Jahr 1799 auswendig lernten. Damals galt es nicht als schädlich, memorieren zu können, und auch ein wenig Lebensweisheit konnte nach Ansicht der damaligen Pädagogen nicht schaden. Matthes enthält sich solcher Bemerkungen.

Gedichte anderthalb Stunden lang aufzusagen, ist auch für einen erfahrenen Schauspieler geistige Höchstleistung. Und da verwundert es nicht, wenn selbst ein Ulrich Matthes hin und wieder auf die Überholspur geht. Die Glocke trägt er in 21 Minuten vor, die nach eigenen Angaben mindestens 25 Minuten braucht. Aber es gelingt ihm, das Leiern zu vermeiden, zu dem die Reime verleiten. Das Publikum ist begeistert und vergibt auch für diese vielleicht berühmteste aller Balladen einmal mehr einen kräftigen Zwischenapplaus. Nach Hoffnung und Die Kraniche des Ibykus fehlt eigentlich nur noch eine Ballade zum Best of. Für die sammelt der Schauspieler noch einmal all seine Konzentration, weil sie nach eigenen Angaben zu seinen Lieblingsballaden gehört. „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bund der Dritte.“ Mit diesen Worten endet Die Bürgschaft und ein wunderbarer Abend. Ja, gewiss, auch mal anstrengend, aber in erster Linie bleibt die Gewissheit, dass klassische Bildung ein vehementes Bollwerk gegen die grassierende Dummheit unserer Tage bilden kann.

So gelungen der Auftakt, so dringend ist der Nachholbedarf im organisatorischen Teil des Geschehens. Das Bedürfnis der permanenten Lüftung führt dazu, dass alle Fenster gekippt sind, und gipfelt im Mithören eines Telefonats vor den Toren des Pavillons während der Glocke. Der Versuch, das während der Veranstaltung zu unterbinden, sorgt für zusätzliche Unruhe. Und irgendjemand will während des Abends dringend erreichbar sein. Davon zeugt das penetrante Summen eines Handys, das irgendwo im Eingangsbereich vereinsamt liegt. Kleinigkeiten, die viel von der Konzentration nehmen, aber leicht zu beheben sind. Bis zur kommenden Woche. Denn am Samstag will der Jazz-Pianist Grégory Privat neue Wege in der Musik aufzeigen. Obwohl die Aufführung ausverkauft ist, lohnt die Nachfrage an der Abendkasse.

Michael S. Zerban