O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Stutte

Aktuelle Aufführungen

Träume aus Licht

SUNSET BOULEVARD
(Andrew Lloyd Webber)

Besuch am
4. Mai 2022
(Premiere am 12. März 2022)

 

Theater Krefeld Mönchengladbach, Theater Krefeld

The Jazz Singer: Ein harmloser Titel, der 1927 zum Todesurteil für eine ganze Schauspieler-Generation wurde. Denn so hieß der erste Tonfilm, der in die Kinos kam. Eine der Leidtragenden war Norma Talmadge, die als eine der besten Darstellerinnen des Stummfilms galt. Ihr Versuch, die Karriere im Tonfilm fortzusetzen, endete kläglich. Und es sollte 20 Jahre dauern, bis sie wieder zu Ruhm kam. Längst hatte sie sich in die Welt von Tabletten, Alkohol und Illusionen geflüchtet, als Billy Wilder 1950 ihre Biografie als Vorlage für seine Norma Desmond in dem Film Sunset Boulevard verwendete. Der deutsche Titel des Films ist übrigens viel einfallsreicher. Hier hieß der Film Boulevard der Dämmerung. Eine jüngst erschienene Studie will herausgefunden haben, dass Jugendliche lieber vier Jahrzehnte eher aufgewachsen wären. Aber zurück zum Film, der 1993 eine Wiederbelebung in Gestalt eines Musicals von Andrew Lloyd Webber erfuhr.

Drehbuchautor Joe Gillis ist auf der Flucht vor zwei Männern, die seinen Wagen pfänden wollen. So gerät er in die Villa von Norma Desmond am Sunset Boulevard. An der Straße befinden sich die großen Filmstudios. Mit den exorbitanten Gagen, die die Stummfilm-Darsteller verdienten, erbauten sie ihre Villen in unmittelbarer Nähe zu den Studios. Gillis sieht die offenstehende Garage des Anwesens, versteckt sein Auto dort und stolpert in die nächtliche Beerdigung eines Affen im hauseigenen Garten. Der Erfolg ist, dass der erfolglose Autor zu einem Job kommt. Er soll das Drehbuch überarbeiten, das Desmond verfasst hat, um ihre Rückkehr ins Filmgeschäft zu ermöglichen. Desmond verpflichtet Gillis darüber hinaus zu Liebesdiensten, die ihm Geld und einen umsorgten Aufenthalt in der Villa einbringen. Blöd, dass der Autor heimlich mit Betty Schaefer ein Drehbuch schreibt und sich in sie verliebt. Es läuft absolut nicht gut für Desmond. Und so endet nicht nur die Stummfilm-Ära für viele Darsteller dramatisch, sondern auch das Stück, das jetzt im Theater Krefeld auf der Bühne zu sehen ist. Hier kann man seit langem mal wieder ein Programmheft empfehlen, denn Dramaturgin Ulrike Aistleitner hat die Hintergründe zum Werk großartig aufgearbeitet und wartet mit ungewöhnlichem Detailreichtum auf. Die Lektüre bereitet wirklich Spaß.

Foto © Matthias Stutte

Eigentlich gilt das Stück nicht als sonderlich erfolgreich, wurde es doch nach „nur“ 992 Vorstellungen am Rhein-Main-Theater dort eingestampft. Aber Regisseur François de Carpentries hat sich zum Ziel gesetzt, noch einmal den ganzen Charme und Tiefgang des Musicals herauszuarbeiten, das wohl eines der letzten war, ehe die kommerziellen Veranstalter sich entschlossen, nur noch massenkompatiblen Einheitsbrei anzubieten, von dem absehbar war, dass selbst Musicalbesucher sich davon irgendwann gelangweilt abwenden würden. Und so inszeniert de Carpentries ein ungewöhnlich opulentes Werk, das dem Theater wohl so ziemlich alles abverlangt, was es leisten kann.

Siegfried E. Mayer hat eine durchdachte Bühne entwickelt, die dennoch – erträgliche – Schwächen hat. Er teilt die Bühne in zwei Teile. Im hinteren Teil ist die Wohnhalle der Villa mit großzügiger Sitzecke, Orgel und Treppenaufgang zu sehen. Sie schließt mit einer Projektionsfläche ab, auf der nicht nur die Leiche im Swimming-Pool, sondern auch die Außenhandlungen zu sehen sind. Wenn Mayer vor diesem Teil einen Zwischenvorhang herablässt, hat er noch ausreichend Fläche, um die Außenszenen wie in den Studios oder Schwab’s Drug Store abzubilden. Dort finden auch die größten Personalauftritte statt, während es gleichzeitig alle möglichen Projektionen gibt. Das ist zu viel. Die Absicht ist gut gemeint, möchte Aurélie Remy in ihren Videos doch gerne auf die großen Paramount-Zeiten referieren. Aber diese Bildfülle kriegt kein Hirn mehr auf die Reihe. Trotz Informationsverlust unterstreicht es aber die Fülle der Ereignisse auf der Bühne. Weniger gelungen sind die Einlagen des Jugendclubs Musical Dance, die zusätzlich eingebaut werden. Es ist immer löblich, dem Nachwuchs eine Chance zu geben, und Silvia Behnke hat eigentlich auch ganz hübsche Choreografien für die Jugendlichen entworfen, aber die sind von der Bühnenreife einfach noch zu weit entfernt. Da hilft es, sich darauf zu konzentrieren, dass de Carpentries die Chorbewegungen sehr gut gelingen. Auch Kostüm-Ausstatterin Karine Van Hercke leistet großartige Arbeit. Lustvoll greift sie in die Fundus-Kiste der 1950-er Jahre und findet auch noch Zeit, nicht ganz einfache Körperproportionen zu umschmeicheln. Großes Kompliment für Fantasie und Handwerk.

Foto © Matthias Stutte

Der Personalaufwand ist extrem. Und einmal mehr ist dem Theater Krefeld Mönchengladbach dazu zu gratulieren, dass es sich diesen Aufwand leisten kann. Norma Desmond wird an diesem Abend von Gabriela Kuhn gegeben. An anderen Abenden gibt Debra Hays hier ihre Abschiedsvorstellung vom Theater. Es gibt ja nicht so viele Paraderollen für ältere Sängerinnen – das hier ist ganz sicher eine. Und Kuhn erledigt das wirklich eindrucksvoll. Große Geste und Dramatik, die der Rolle eingeschrieben sind, beherrscht sie glaubhaft bis zum Schluss, wenn Desmond endgültig ins Straucheln gerät. Sehr überzeugend ist auch Joe Gillis. Obwohl zunächst Skepsis angesagt ist, wenn man die Undercut-Frisur von Oliver Arno sieht. Aber nein, es stimmt. Exakt so könnte er 1950 ausgesehen haben. Wer da also von einer modernen Frisur spricht, zeigt, dass er in den falschen Barber Shop geht. Retro ist hier der richtige Begriff. Auch sonst macht Arno eine gute Figur. Ob er allerdings wirklich aussingt, wird spätestens bei seinem großen Auftritt mit dem Stück Sunset Boulevard zu Beginn des zweiten Aktes fraglich. Das klingt doch eher ein bisschen nach gebremstem Schaum. Stattdessen konzentriert er sich darauf, am Phrasenende den Ton lange zu halten. Und da gibt es mehr als eine verzwickte Stelle, die er mit Bravour löst. Aus dem Opernstudio kommt Boshana Milkov, die ihm eigentlich längst entwachsen ist. Als Betty Schaefer wird sie an keiner Stelle überfordert und kann befreit und mit Spaß singen. Am Schauspiel hätte de Carpentries sicher noch feilen können, allzu oft steht sie in der Gegend herum, aber Milkov macht das Beste daraus, und im Liebesduett mit Gillis gelingt beiden großartig, sich aus der Stereotypie zu lösen. Eine der schwierigsten Gesangsrollen hat Webber Max von Mayerling, dem „Diener“, zugedacht. Da geht es für Markus Heinrich schon mal vom Bass in höhere Tenor-Lagen. Das klingt eingangs noch nicht optimal, bessert sich aber im Laufe des Abends. Darstellerisch gehört Heinrich zu den Spitzenkräften. Stark seine Offenbarung als erster Regisseur Desmonds. Die zahlreichen zusätzlichen Rollen sind adäquat besetzt.

Nicht so ganz glücklich kann man überraschend mit dem Chor sein, den Maria Benyumova in gewohnter Qualität einstudiert hat. Allerdings ist der gesamte Chor mikrofoniert, was vermutlich vollkommen überflüssig ist. Denn die Lautstärke, mit der er den Saal flutet, übersteigt jede Anforderung. Das dröhnt bis zur Unverständlichkeit der Texte.

Yorgos Ziavras dirigiert die Niederrheinischen Sinfoniker mit groben, wuchtigen Schlägen. Was ungewöhnlich aussieht, ist aber vorzüglich geeignet, den typischen Hollywood-Kintopp-Klang zu erzeugen, den Webber so gern für das Stück haben wollte. Breite Streicher- und Bläsersätze wechseln mit eingängigen Themen. So erklingt aus dem Graben eine wunderbare Reminiszenz an eine Zeit, die vielleicht den größten Umbruch in der Kino-Geschichte überhaupt ausmachte.

Das Publikum im längst nicht vollbesetzten Saal feiert die Akteure begeistert, lässt sich gern von den Rhythmen des wieder aufspielenden Orchesters zu einem raschen Ende führen. Nach fast drei Stunden ist dann auch allseitig dankbare Erschöpfung spürbar. Den kommerziellen Musical-Anbietern hat das Theater Krefeld Mönchengladbach jedenfalls noch einmal deutlich gezeigt, wie man Qualität produziert.

Michael S. Zerban