O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Stutte

Aktuelle Aufführungen

Band wie Bandoneon

SEIDE – BAND – BANDONEON
(Robert North)

Besuch am
30. Mai 2023
(Premiere am 27. Mai 2023)

 

Theater Krefeld Mönchengladbach, Theater Krefeld

650 Jahre wird die Stadt Krefeld in diesem Jahr. Und sie legt sich mächtig ins Zeug, das Ereignis ausgiebig zu feiern. Eine eigene Netzseite wurde aufgesetzt, auf der kaum Wünsche offenbleiben, was Veranstaltungskalender, Anmeldung von Veranstaltungen und Ähnliches angeht. Und „selbstverständlich“ trat die Stadt auch an das Theater Krefeld Mönchengladbach heran, man möge doch der Feierlichkeit in irgendeiner Form Rechnung tragen. Man kennt das von ähnlichen Gelegenheiten. Da kommt dann oft das Theaterstück „650 Jahre in 90 Minuten“, gerne unter Bürgerbeteiligung, auf die Bühne des Stadttheaters, das der Dramaturg so zurechtgeschrieben hat, dass auch der Schulchor noch einen Platz findet. Das Krefelder Theater hat sich entschieden, der Idee von Robert North und André Parfenov zu folgen und eigens ein Ballett uraufzuführen. Denn schließlich ist Krefeld nicht nur der Seidenproduktion verbunden, sondern hierher kommt auch ein Instrument, dessen Herkunft die meisten Menschen wohl eher mit Argentinien verbinden. Wie könnte man schöner die Weltbedeutung der Stadt am Niederrhein verdeutlichen?

Foto © Matthias Stutte

1838 gab der Seidenweber Peter Band aus Krefeld seinen Beruf auf, um künftig sein Geld als Musiker und Instrumentenhändler zu verdienen. Da war Sohn Heinrich 17 Jahre alt. Mit 21 Jahren übernahm er das Musikaliengeschäft seines Vaters und verkaufte neben Blas-, Saiten- und weiteren Tasteninstrumenten auch die Konzertina, die Carl Friedrich Uhlig aus Chemnitz 1834 erfunden hatte. Um den geschäftlichen Erfolg zu vergrößern, entwickelte Band daraus ab 1845 das Bandonion, den Vorläufer des heutigen Bandoneons. Bereits im Alter von 39 Jahren starb der Musiker und durfte so den eigentlichen Siegeszug seines Instruments nicht mehr erleben. Immerhin erfuhr das Instrument bis dahin deutschlandweite Geltung. Schließlich war das Bandoneon erschwinglich und ersetzte so mancher Kirchengemeinde die Orgel. Aber auch in Privathaushalten war es gern gesehen. 1939 gab es in Deutschland etwa 670 Bandoneon-Vereine, die das Instrument meist für einfache Volksmusik wie die Polka oder den Ländler nutzten. Um 1900 sorgten europäische Einwanderer dafür, dass das Handzuginstrument aus der Gruppe der Harmonika-Instrumente sich in den Hafenkneipen und Bordellen von Buenos Aires und Montevideo verbreitete. Schnell entwickelte es sich in Argentinien und Uruguay zum Bestandteil eines Orquesta Típica. Tatsächlich gab es bis vor einigen Jahren nur aus Deutschland importierte Instrumente, die allerdings längst nicht mehr aus Krefeld kamen. Berühmt ist bis heute das Produkt aus der Harmonika-Firma von Alfred Arnold, das seinen Sitz in Carlsfeld, einem kleinen Ort im Erzgebirge hatte. Bis heute genießt das „Doble-A“ Kultstatus, sein Klang gilt als unerreicht.

Auch ein Choreograf wie Robert North, den man durchaus als Meister des Handlungsballetts bezeichnen darf, kann eine solch komplexe Geschichte im Ballett nicht chronologisch erzählen. Zumal der Schwerpunkt der Handlung in Krefeld liegen sollte. North beschränkt sich daher auf eine szenische Darstellung von „Meilensteinen“ und kann so in einer einstündigen Aufführung zumindest eine Idee der Entwicklungen vermitteln. Udo Hesse hat dazu eine raffinierte Bühne geschaffen, indem er den Bühnenraum zwar für die Tänzer frei lässt, aber durch immer neue Elemente an der Rückseite der Bühne wie Bilder, Projektionen oder die Andeutung einer Wohnstube platziert. So fallen dem Zuschauer die örtlichen und zeitlichen Einordnungen leichter – wenn die ihn überhaupt interessieren. Denn Guido Pyczak und Gaëtan De Blecker tauchen die farbenfrohen Kostüme von Hesse in helles und sehr helles Licht, dass es eine wahre Freude ist.

Foto © Matthias Stutte

Gemäß der selbstgewählten Aufgabenstellung ist der Tango nicht übermäßig vertreten, was North kaum hindert, dem Ensemble überdurchschnittlich viele Figuren, Hebungen und Sprünge aufzugeben, so dass die Leichtigkeit Triumphe feiert. Hier dürfen die Tänzer zeigen, was sie können, allen voran Marco A. Carlucci als Heinrich Band mit einigen schönen Soli, Teresa Levrini als seine Ehefrau und Andrii Gavryshkiv als Schiffsreisender. Besonders schöne Ensemble-Leistungen gibt es dann aber doch gerade beim Tango, wenn hier Figuren gezeigt werden, die das Tanzschul-Niveau deutlich übersteigen und damit eines Balletts würdig werden, ohne allzu abstrakt zu werden.

Besonderen Raum nimmt die Musik ein, die André Parfenov nicht nur selbst komponiert hat, sondern auch gemeinsam mit Iuliana Münch an der Geige und Stefan Langenberg am Bandoneon aufführt. Neben der Bearbeitung eines Ländlers, den der Laie auch beim einmaligen Hören ganz sicher nicht erkennt, findet sich eine wunderbare Bandbreite in der Musik. Da gibt es kraftvolle Klaviereinlagen, wobei Parfenov dem Flügel die Führungsrolle anvertraut, immer wieder verziert oder gar gesprengt von dissonanten Geigeneinsätzen bis zum wunderbaren Solo Langenbergs. Nicht zu vergessen eine prächtige „Maschinenmusik“, die zudem noch auf der Bühne rhythmisch unterstützt wird.

Dass die einzelnen Szenen dem Ballett etwas an Fluss nehmen, zumal das Publikum nun wirklich auch jede Szene applaudiert, stört nicht den Gesamteindruck eines kurzweiligen, überraschungsreichen, aber nachvollziehbaren Handlungsballetts, das genau das erreicht, was es wollte, nämlich gut und kurzweilig zu unterhalten. Das Publikum sieht es ähnlich und erhebt sich, um minutenlang wirklich allen Akteuren zu einem Ballettabend zu gratulieren, der schon fast musicalhaft eines der schönsten Kapitel in der Geschichte der Stadt Krefeld beleuchtet.

Michael S. Zerban