O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Stutte

Aktuelle Aufführungen

Sag zum Abschied ganz laut Servus

MILDE SYMPTOME
(Diverse Komponisten)

Besuch am
23. Juni 2022
(Uraufführung)

 

Theater Krefeld Mönchengladbach, Theater Krefeld

Eigenproduktionen waren Bestandteil ihrer Ausbildung im Opernstudio Niederrhein. Da liegt es nahe, dass die Mitglieder des Opernstudios und des Jungen Theaters sich nicht mit einem Blumenstrauß und großen Reden verabschieden lassen, sondern auf der Bühne zeigen, warum die Krefelder und Mönchengladbacher sie vermissen werden. Und das in großem Stil.

Die Mitglieder des Opernstudios Niederrhein sind aus Finanzierungsgründen inzwischen auch Mitglieder des Jungen Theaters, einer Einrichtung für die Nachwuchsförderung aller Genres im Theater Krefeld Mönchengladbach. Dazu gehören ein Schauspieler, zwei Balletttänzerinnen, vier Akademisten des Orchesters und die fünf Mitglieder des Opernstudios. Übernommen wird aus diesem Jahrgang lediglich eine Balletttänzerin. Das ist nicht ungewöhnlich, bedeutet aber für die anderen, dass sie sich einen neuen Arbeitsplatz suchen müssen. Manchmal geht so etwas so fix, dass die Ausbildungszeit im Opernstudio gar nicht zu Ende gebracht wird, manchmal müssen die Absolventen auch ohne Nachfolgevertrag das Theater verlassen. Das wissen die Teilnehmer des Jungen Theaters bei Vertragsbeginn, so dass es diesbezüglich kein böses Blut gibt, sondern ein ganz normaler Vorgang ist. Trotzdem ist und bleibt es ein Abschied von einer Zeit, die für die meisten von ihnen einen im positiven Sinne prägenden Eindruck hinterlassen dürfte. Dafür möchten sie sich bedanken.

Foto © Matthias Stutte

Der Auftakt zu einer „musikalisch-szenischen Therapie mit Mitgliedern des Jungen Theaters“ unter dem Titel Milde Symptome findet im Großen Saal des Krefelder Theaters statt. Oder genauer: auf der Bühne. Hier sind Stühle für etwa 120 Besucher aufgebaut, von denen ein kleiner Teil unbesetzt bleibt. Davor ist genügend Platz für eine große Studiobühne. Die hat Udo Hesse gestaltet. Er hat einen Warteraum eingerichtet, in dem links hinten Platz für die Streicher eingeräumt ist. Davor ist der Flügel aufgebaut. Im Raum verteilt sind Wartebänke und ein Tisch, ein paar künstliche Pflanzen, darunter auffallend viele Orangenbäumchen. In der Mitte hinten ist ein Arzneischrank aufgestellt, neben dem ein Wasserspender steht. Dargestellt ist damit das Institut für Diagnose und Therapie von Berufskrankheiten weisungsgebundener Bühnenkünstler, kurz IDTBWB. Dabei ist klar, dass Schauspieler Raafat Daboul, Tänzerin Julianne Cederstam und Tänzerin Alice Franchini nicht teilnehmen können, weil sie in andere Aufführungen eingebunden sind. Die Idee von Regisseur Roland Hüve ist, dass die Sänger sich von einer Stimme aus dem Off, die er selbst spricht, therapieren lassen, während die Musiker die nötige Unterstützung aus dem Hintergrund liefern. Hermenegild Fietz sorgt dafür, dass das Ganze im rechten Licht erscheint. Dabei wird eine denkbar schlichte Beleuchtung mit wenigen Effekten gewählt, was angesichts der Außentemperaturen eine dankbare Lösung ist.

Was Hüve inszeniert, ist weniger eine Revue als vielmehr ein Pasticcio, also in eine Handlung eingebettete Gesangsdarbietungen. Da verfügt das Theater Krefeld Mönchengladbach inzwischen über beträchtliche Erfahrung. Und die Handlung vermeidet jeden Klamauk, sondern setzt stattdessen auf herrlich einfallsreichen Humor in den Dialogen. Kluger Witz begeistert das Publikum über 90 Minuten. Das muss man auch erst mal schaffen. Zunächst tritt die Musik auf den Plan. Die Niederrheinischen Symptomiker bestehen aus Beatriz Moura und Kiki Shibayama an den Geigen, Raquel Cobo Álvarez an der Bratsche und Catarina Nunes am Cello, die sich der Leitung von Repetitor Avishay Shalom am Flügel anvertrauen. Sie eröffnen den Abend mit der Air aus Orchestersuite Nr. 3 in D-Dur, BWV 1068, von Johann Sebastian Bach. Maya Blaustein interpretiert als Tina La Mesybau anschließend Der Zwerg von Franz Schubert in farbenfroher Kleidung. Sie bringt damit noch einmal in Erinnerung, wie viel Spaß sie dem Publikum in den vergangenen drei Jahren mit ihrer Spielfreude bereitet hat. Und das wird sich im weiteren Verlauf noch steigern. Guillem Batllori tritt als eindeutig beziehungsgestörter Bariton auf, dessen Traurigkeit behoben werden muss. Klar, wenn er auch als Rodrigo in der zweiten Szene des dritten Akts mit Son io, mio Carlo aus Giuseppe Verdis Don Carlos antritt. „Du bist nicht tot“, erklärt ihm die Stimme aus dem Off. Na, dann besteht ja noch Hoffnung. Schwieriger wird es bei Boshana Milkov in ihrer Rolle als Mia von Lobshak, wenn sie Losing My Mind interpretiert. Damit leidet sie eindeutig unter Sondheim. Um Steven Sondheim zu bekämpfen, helfe nur noch eine Rossini-Kur, befindet der Therapeut. Es ist großartig. Und schlägt immer höhere Wellen, die viel von Situationskomik leben und deshalb hier auch nicht weiter beschrieben werden. Tenor Robin Grunwald tritt als Bruno Warnglid an, um eine Interpretation von Bonnie Tylers Welterfolg Total Eclipse Of The Heart abzuliefern, die zum Niederknien ist.

Foto © Matthias Stutte

Auch ohne jetzt jeden Titel einzeln abzuklappern, wird deutlich, dass es Andreas Wendholz, Stellvertretender Generalintendant, Operndirektor und Leiter des Opernstudios mit seinem Team gelungen ist, aus rollendeklamierendem Opernsänger-Nachwuchs künstlerische Persönlichkeiten zu formen, die ihren eigenen Weg gehen werden. Und auch wenn Boshana Milkov nach den Sommerferien ihr Engagement in Bremerhaven antreten wird, wird spätestens bei ihrer Interpretation von George Gershwins Vodka die Frage auftauchen, ob wir nicht viel eher noch von ihr als bedeutender Jazz-Interpretin hören werden. Spätestens bei der Bohemian Rhapsody von Queen, die das Quartett bravourös meistert, drängt sich der Gedanke auf, dass die Künstler in den vergangenen Jahren nicht nur gewachsen sind, sondern auch all das Rüstzeug, das ihnen das Theater angeboten hat, sorgsam aufgesammelt haben und heute einsetzen können. Ja, es mag sein, dass Grunwald als Tenor weiterarbeitet, aber wenn man seine Interpretation von Wolfgang Petrys Verlieben, Verloren, Vergessen, Verzeih’n hört, kann man sich auch ganz andere Entwicklungen vorstellen. Und ob Maya Blaustein mit ihrer Fantasie und Spielfreude, mit der sie Meine Lippen, sie küssen so heiß hinreißend darbietet, nicht vielleicht in Zukunft einer eigenen Operntruppe vorsteht – wer will das wissen?

Am Ende eines Abends, an dem es ein wenig am Herzmuskel zuckt, dass die jungen Leute nun weiterziehen müssen, siegt die Freude an dem Gedanken, dass ihnen allen womöglich großartige Karrieren bevorstehen, von denen sie heute noch nicht einmal eine Ahnung haben. Denn sie haben das gelernt, was Wendholz ihnen als Ziel vorgegeben hat: Das Publikum zu fesseln und zu begeistern.

Am kommenden Sonntag gibt es in Mönchengladbach noch einmal die Möglichkeit, sich diesen warmherzigen, überraschenden, komischen und im Format viel zu selten erlebten Abend noch einmal zu Gemüte zu führen. Dann übrigens gibt es im Anschluss auch eine kleine Abschiedsfeier. Das Publikum dieses Abends wünscht schon einmal den sympathischen jungen Menschen, die dafür brennen, die Opernbühne aufzumischen, alles Gute für ihren weiteren Lebensweg. Das ist aus den Gesprächen nach frenetischem Applaus herauszuhören.

Michael S. Zerban