Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
GEZEITEN
(Chun Zhang, Kai Strathmann)
Besuch am
18. August 2023
(Premiere am 11. August 2023)
Die Stadt Krefeld wird 650 Jahre alt. Eine schöne Gelegenheit, mal kräftig am angebeulten Image zu polieren. Dazu hat der Oberbürgermeister, Frank Meyer, eine Werbeagentur beauftragt, die hervorragende Arbeit leistet. Da werden wirklich alle Register gezogen, um die Bürger in Champagnerlaune zu bringen. Eine eigene Netzseite zeigt, wo die Einwohner feiern können und was sie unternehmen müssen, um eigene Feste zu organisieren. Selbstverständlich sind auch die Kulturinstitutionen aufgefordert, das Ereignis gebührend zu begehen. Also beauftragt das Kulturbüro der Stadt im Rahmen des Festivals für den zeitgenössischen Tanz Move! In Town die Compagnie Yibu Dance aus Velbert, eine Choreografie zum Stadtjubiläum zu entwickeln. Die soll ungewöhnlich genug sein, um möglichst viele Bürger anzuziehen. Die 650-Jahr-Feier wird nicht nur thematisch, sondern auch nach Jahreszeiten unterteilt. Und da bietet sich für den Sommer eine Veranstaltung unter freiem Himmel an. Gern an zentralem Ort, der von den Bürgern leicht erreichbar ist.
Valentina Restrepo Giraldo – Foto © O-Ton
Die Fabrikantenfamilie von der Leyen gönnte sich ein Stadtpalais in exklusiver Lage. Ein dreigeschössiges Gebäude mit spätklassizistischer Putzfassade. 1859 begann der Umbau zum Rathaus. 1943 wurde das Palais bis auf die Umfassungsmauern und die Säulen zerstört, anschließend wieder neu aufgebaut. Heute liegt das Gebäude an einem von vier Seiten bebauten Platz, der nach dem Namen von der Leyens benannt ist. Für den Autoverkehr gesperrt, bietet sich hier ein Areal der Ruhe. Für Chun Zhang und Kai Strathmann von Yibu Dance der ideale Ort, die Choreografie Gezeiten aufzuführen. Dass die beiden Choreografen für ungewöhnliche Lösungen stehen, haben sie längst unter Beweis gestellt. Und so gibt es an diesem Abend keinen Bühnenaufbau und keine Musik. Sieht man davon ab, dass sich abends um viertel vor sieben mehr Menschen als gewöhnlich auf dem Platz versammeln, deutet zu diesem Zeitpunkt nichts darauf hin, dass hier in einer Viertelstunde eine Tanzaufführung stattfinden soll. Erst kurz vor Beginn werden die Besucher, die sich auf die Stufen vor dem Eingang des Rathauses niedergelassen haben, gebeten, die Treppe zu verlassen und sich Plätze an den Seiten des Karrees zu suchen. Dazu gibt es eigentlich keinen Grund. Es hätte vollkommen ausgereicht, ein paar Lücken in der Sitzreihe zu lassen – und hätte vermutlich auch ein schöneres Bild ergeben. Denn die Tänzer werden kurz darauf über die Stufen auf den Platz hinaustreten, aber dazu brauchen sie nicht mehr als drei schmale Durchgänge. Nun stehen die Besucher also rechts und links von der Fassade des Rathauses ziemlich unbequem, die wenigen Plätze auf den Bänken sind schnell besetzt, und warten auf das Kommende.
Kyoko Oku – Foto © O-Ton
Zeitgenössischer Tanz ohne Musik ist nichts Ungewöhnliches. Ganz im Gegenteil hatten die Choreografen bis vor einigen Jahren durchaus ihre Schwierigkeiten, das Geschehen auf der Bühne mit Klängen zu kombinieren. Heute Abend allerdings verpassen die Besucher fast den Beginn der Aufführung, als sich zwei Tänzerinnen aus den Arkaden des Rathauseingangs schälen. Sie bewegen sich vorwärts und okkupieren den Platz vor dem Rathaus als Bühne. Mehr und mehr Tänzer folgen ihnen nach und nach, bis es schließlich acht sind. „Gezeiten ist eine Choreografie über die feine und manchmal unmerkliche Bewegung der Gewichtsverlagerung des Menschen“, beschreiben die Choreografen ihre Arbeit. Die Aufführung „fängt die kostbaren Momente zwischen Vorbereitung und Umsetzung, Orientierung im Raum und Positionswechsel ein“, kündigen sie den Abend an. Der zeitgenössische Tanz im urbanen Umfeld ist eine besondere Herausforderung. Hier zeigt sich der Meister der Choreografie, soll sich der Tanz nicht in der Bedeutungslosigkeit des Raums verlieren. Strathmann und Zhang gelingt es, die Besucher auf die Tänzer zu fokussieren, die sich in Reihe aufstellen, aus der einzelne Protagonisten immer wieder ausbrechen, um sich mit eigenen Bewegungsmustern zu profilieren. Die Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen im Team verlagern sich allmählich, vom Rathaus aus gesehen, in das hintere Drittel des Platzes. Ruckhafte roboterhafte Bewegungen wechseln mit schlangengleichen Verformungen, Soli mit Formationen. Immer wieder bricht das Kollektiv auseinander, um schließlich in einem Zentrum in der Mitte des Platzes zusammenzufinden, wo der einzelne noch Raum für individuelle Bewegung in sicherer Nähe zu den anderen hat. Eigentlich nach knappen 70 Minuten ein harmonisches Schlussbild, das die Choreografen aber so nicht stehen lassen wollen. Und so sprengen die Tänzer ein letztes Mal kreisförmig auseinander, um letztlich am Rand der Spielfläche in der Menge unterzutauchen.
Wie gut es den Tänzern gelingt, im Publikum schweigend und ohne Musik Spannung aufzubauen, wird deutlich, als ein Mofa über den Platz fährt und die gefühlte Stille zerreißt. Auch bei der zweiten – und letzten – Aufführung hat Yibu Dance das Glück des Tüchtigen, wenn der Auftritt in milder Abendluft stattfinden kann. Übrigens auch ohne jede Lichttechnik, die liefert die Spielstätte mit wechselnden Lichteinfällen über die Dächer hinweg gleich mit. Aber das fällt eigentlich erst auf, nachdem der rauschende Beifall verklungen ist und die Menge sich auflöst. Einmal mehr haben Chun Zhang und Kai Strathmann bewiesen, dass ihre Choreografien magische Wirkung besitzen – nur diesmal in einer noch größeren Öffentlichkeit.
Michael S. Zerban