O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Matthias Stutte

Aktuelle Aufführungen

Los, komm ins Kabarett

CABARET
(John Kander)

Besuch am
17. April 2023
(Premiere am 4. Februar 2023)

 

Theater Krefeld Mönchengladbach, Theater Krefeld

Als Intendant eines Stadttheaters muss man manchmal schon ziemlich darauf achten, dass einem nicht die Nerven durchgehen. Da kann man die anspruchsvollsten Schauspiel-Produktionen umsetzen, im Musiktheater eine Sängerriege bereitstellen, die sich mit jedem Opernhaus messen lassen kann, ein innovatives Ballett anbieten, wie es nur noch an den wenigsten Opernhäusern zu finden ist. Aber wenn er sichergehen will, dass auch in der x-ten Folgevorstellung das Haus bis auf den letzten Platz besetzt ist, muss er Plakate mit der Aufschrift Musical an die Theaterfassade hängen. Fairerweise ist festzuhalten, dass die privat finanzierten Musicals in der Qualität immer mehr nachlassen, dafür aber inzwischen Preise aufrufen, die in das Budget des Durchschnittsverdieners einfach nicht mehr reinpassen. Und da ist so ein Stadttheater-Musical eine gute Alternative, auch wenn man dort seltener ausgebildete Musical-Darsteller und nicht die ganz großen Bühnenshows geboten bekommt. Beim Theater Krefeld Mönchengladbach kommt hinzu, dass es sich in den vergangenen Jahren einen ausgezeichneten Ruf mit seinen Musical-Produktionen erworben hat.

Und so verwundert es nicht, dass das Theater Krefeld an einem Montagabend mit Cabaret, das im Februar Premiere feierte, auch den allerletzten Platz im Zuschauerraum besetzen kann. Ein erstes Kompliment geht dabei an das Personal im Vorderhaus. 20 Minuten vor Beginn der Aufführung steht noch eine lange Schlange vor dem Parkhaus. Trotzdem beginnt der Abend pünktlich, und es muss auch niemand nachträglich in den Zuschauerraum geschleust werden. Trotzdem beginnt der Abend mit einer Schrecksekunde. Denn Abendspielleiterin Marireau Mühlen betritt die Bühne, und das bedeutet meist nichts Gutes. Tatsächlich ist die Ansage mehr der Eitelkeit eines Schauspielers geschuldet, der sich verletzt hat und nun eine Manschette am Oberschenkel tragen muss, die man kurz bei seinem Auftritt sehen kann. Na, da haben die Zuschauer wenigstens was zu erzählen.

Foto © Matthias Stutte

Cabaret, 1951 am Broadway uraufgeführt, ist ein eher düsteres Musical und damit auch nicht als Nachfolge der Operette zu sehen. Vermutlich wäre es längst in der Versenkung verschwunden, hätte es nicht 1972 die Verfilmung von Bob Fosse gegeben. Acht Oscars gab es für diesen Film. Darunter den für die Hauptdarstellerin, die bis heute in den Köpfen der Menschen auftaucht, wenn von dem Musical die Rede ist. Liza Minnelli spielte Sally Bowles. Einen solchen Stoff wieder auf die Bühne zu bringen, ist immer ein Wagnis. Frank Matthus ist es in Krefeld eingegangen – in Mönchengladbach wird die Produktion in der kommenden Spielzeit zu sehen sein – weil er auf ein starkes Ensemble bauen kann.

Anne Weiler hat eine Bühne gebaut, wie man sie nur noch selten findet. Sie hat sozusagen die Fantasie der Zuschauer mit eingebaut. In der Rückwand sind seitlich sechs Türen eingelassen, in der Mitte ist Platz für eine wechselnde Kulisse. Weil das Orchester nur wenig Raum benötigt, nutzt sie den Graben als Tischfläche des Kitkat-Clubs und schafft somit gleichzeitig einen fließenden Übergang zum Zuschauerraum. Denn an diesem Abend sind ja alle Gäste in dem Kabarett. Mit ein paar Accessoires wird deutlich, wenn der Schauplatz in ein Zugabteil, in die Pension Schneider oder in den Obstladen des Juden Schulz wechselt. Mit ihren Kostümen versetzt sie das Publikum in das Jahr 1930, in dem das Stück spielt. Das bedeutet einerseits bei den Menschen, die außerhalb des Clubs auftreten, die ganze Spießigkeit der ausgehenden Weimarer Republik und andererseits freie Entfaltung der Fantasie, was die Kostüme der Club-Mitarbeiter angeht. Da können die Darsteller befreit aufspielen, zumal Matthus dafür sorgt, dass in seiner Personenführung niemand ins Hintertreffen gerät.

Cabaret ist ein Stück über die „kleinen Leute“, die Desillusionierten, die sich im täglichen Existenzkampf aufreiben und jede Hoffnung haben fahren lassen. Deshalb lag der Fokus früherer Aufführungen auch eher auf Fräulein Schneider, die ihren Lebensunterhalt mit einer Zimmervermietung bestreitet. Esther Keil zeigt sie sehr authentisch, vor allem, wenn sie ihr großes Lebensglück angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen wie eine Seifenblase zerplatzen lässt. Darunter zu leiden hat ihr Mieter, der Obsthändler Herr Schultz, der seinen jüdischen Glauben zu diesem Zeitpunkt noch nicht als Gefahr ansieht. Grundehrlich und ein bisschen spießig zeichnet Bruno Winzen das Bild eines warmherzigen, gutgläubigen Menschen, der die ersten Warnhinweise noch in den Wind schlägt. Ebenfalls in der Pension wohnt das Fräulein Kost, lebenslustig und sehr blond dargestellt von Nele Jung. Neu hinzukommt Clifford Bradshaw auf Empfehlung von Ernst Ludwig. Die beiden haben sich in einem Zugabteil auf der Fahrt nach Berlin kennengelernt. Paul Steinbach hält sich als Cliff emotional ein wenig zu sehr zurück. Er überlässt dem Text, den ersten Rausch der Großstadt, die große Verliebtheit, die Sorge und die Verzweiflung zu vermitteln, die den erfolglosen amerikanischen Schriftsteller schließlich wieder aus Berlin vertreiben. Ludwig entpuppt sich im Spiel von Ronny Tomiska als kleiner Mitläufer, der sich bei den Nationalsozialisten die große Karriere erhofft und deshalb auch vor illegalen Machenschaften nicht zurückschreckt, um die braune Bande an die Macht zu bringen. Ein paar Andeutungen lassen vermuten, dass Ludwig zu den verflossenen Affären von Sally Bowles gehört. Die Figur der Tänzerin, die sich zum Star im Kitkat-Club hochgearbeitet hat, steht heute im Vordergrund der Handlung, versprach sie doch ein bisschen mehr Glamour als die Sorgen und Nöte Fräulein Schneiders. Mit Jannike Schubert kann Matthus ebenfalls über eine großartige Sally verfügen, die sich mit viel Spielfreude, tänzerischem Einsatz und Glaubwürdigkeit schnell in die Herzen des Publikums schmuggelt. Dabei ist der tatsächliche Star in den Kabaretts jener Zeit der Conférencier, der Alleinunterhalter, der durch den Abend führt. Und da hätte Adrian Linke sicher schon damals große Chancen auf Erfolg gehabt. Obwohl er eigentlich wenig zur Handlung beizutragen hat, begeistert er mit jedem seiner halbseidenen Auftritte mehr, untermalt sehr subtil die sich wandelnde Stimmung, die auch vor dem Kitkat-Club nicht Halt macht.

Foto © Matthias Stutte

Die Musik von John Kander überfordert keinen Schauspieler. Und so darf man sich über die Schlager wie die kleinen Gesangseinlagen freuen. Gewöhnen muss man sich daran, dass die Mikrofonierung nicht gerichtet ist, also die Texte nicht von den Darstellern, sondern aus den Lautsprechern zu hören sind. Das trübt den insgesamt positiven musikalischen Gesamteindruck ein wenig und ist eigentlich auch nicht mehr Stand der Technik. Dafür begeistern die Chornummern, die auch unter der schweißtreibenden Choreografie von Kerstin Ried zu absolvieren sind – und tadellos gemeistert werden. Das Orchester unter der Leitung von Jochen Kilian sorgt unterdes dafür, dass es Broadway-„Originalklang“ gibt.

Cabaret sorgt für Lebensfreude, Humor, Szenen, die nachdenklich stimmen und so was wie Erotik auch. Es ist das Rundum-Paket des Lebens. Und Matthus schreckt auch nicht davor zurück, das Publikum in eine böse Falle tappen zu lassen. Er lässt den Chor zum Ende des ersten Akts den Schlager Tomorrow belongs to me auf Deutsch singen. Da heißt er dann Der morgige Tag ist mein und bringt die Intention von Kander und seinem Texter Fred Ebb viel deutlicher zutage, als es in der amerikanischen Version möglich wäre. Ein Lied der Hoffnung auf die kommende nationalsozialistische Herrschaft. Das ist schon ziemlich gruselig. Am Ende des so hübsch vorgetragenen „deutschen Heimatliedes“ tritt das Ensemble geschlossen an die Rampe und reckt die Arme zum „Hitler-Gruß“. Das Publikum – statt gemeinschaftlich in Buh-Rufe zu verfallen – applaudiert ob des musikalischen Genusses. Darf ein Regisseur so was? Im Theater Krefeld Mönchengladbach darf er das. Weil hier die künstlerische Freiheit über der so genannten politischen Korrektheit steht. Weiterhin. Und so wird hier der „deutsche Gruß“ unversehens zum Bild des Widerstands gegen eine künstlich geglättete, schöne neue Welt. Kompliment. Das Publikum mag über sein Verhalten in der Pause reflektieren.

Ja, an diesem Abend weiß Intendant Michael Grosse wieder, warum er gerne das Plakat mit der Aufschrift Musical an die Theaterfassade heftet. Das Publikum ist hingerissen, verfällt nach wenigen Sekunden in den Klatsch-Rhythmus des Narrhalla-Marsches und ist schier verzückt, als Jannike Schubert das Ensemble noch einmal zu einer Zugabe auf die Bühne lockt. Nach guten zweieinhalb Stunden geht ein wunderbarer Theaterabend zu Ende.

Michael S. Zerban