O-Ton

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Foto © Paul Leclaire

Aktuelle Aufführungen

Erinnerung an glanzvolle Zeiten

DER ZWERG/PETRUSCHKA
(Alexander Zemlinsky, Igor Strawinsky)

Besuch am
19. November 2022
(Premiere)

 

Oper Köln, Staatenhaus Deutz

Mit einem Doppelabend blickt die Kölner Oper exakt 100 Jahre zurück, als dort Alexander Zemlinskys Oper Der Zwerg uraufgeführt wurde, gekoppelt mit Igor Strawinskys elf Jahre älterem Ballett Petruschka. Damals sorgte der große Otto Klemperer als musikalischer Leiter des Hauses für einen sensationellen Erfolg.

Der heutige Chefdirigent François-Xavier Roth überlässt dem niederländischen Gastdirigenten Lawrence Renes die Leitung der nostalgischen Erinnerung an glanzvolle Zeiten. Und der wühlt die Klangwogen der Zemlinsky-Oper so rauschhaft auf, dass die Sänger mehrfach in Bedrängnis geraten. Und das, obwohl das Gürzenich-Orchester weit im Hintergrund positioniert ist und die Sänger auf einem durch die gesamte Länge des Staatenhauses gezogenen Catwalk dem seitlich sitzenden Publikum fast auf den Schoß springen könnten. Selbst einem für die kräftezehrende Titelrolle prädestinierten Tenor wie Burkhard Fritz bricht da mitunter die Stimme weg. Zumal er an dem Abend offenbar mit einer leichten Indisposition zu kämpfen hat.

Die knapp anderthalbstündige Oper basiert auf Oscar Wildes Erzählung Der Geburtstag der Infantin, in der der spanischen Prinzessin Clara zu ihrem 18. Wiegenfest als skurriles Geschenk ein verwachsener Gnom überreicht wird. Der ist sich seiner Hässlichkeit nicht bewusst und verliebt sich in die schöne Prinzessin, die in ihm ein unterhaltsames Spielzeug sieht. Als er sich zum ersten Mal im Spiegel sieht, bricht sein Herz.

Wilde ließ sich von einem bizarren Bild Diego Velasquez‘ inspirieren. Die abgedunkelte, schroffe Welt Velasquez‘ interessiert Regisseur Paul Georg Dittrich allerdings nicht. Er sieht in der Infantin eine moderne, stilbewusste Influencerin, die sich von ihrem oberflächlichen Hofstaat auf dem Catwalk feiern lässt. Die Bösartigkeit des Stücks wird dadurch zwar gemildert, aber die Verzweiflung des letztlich desillusionierten, als Spielzeug missbrauchten Zwergs kommt nicht zuletzt durch die intensive Leistung von Burkhard Fritz deutlich zur Geltung. Kathrin Zukowski bewältigt die ebenfalls anstrengende Partie der Infantin souverän mit einer angemessenen Dosis Koketterie und Naivität. Claudia Rohrbach in der Rolle der einzigen Zofe am Hof, die Mitleid mit der verlachten Kreatur empfindet, setzt weitere vokale und gestalterische Höhepunkte. Auch der stark geforderte Damenchor der Kölner Oper trägt zum Erfolg der Premiere bei.

In der Pause wird ein Teil des Catwalks zu einem Podest für die Tänzer des Ballets of Difference umgebaut. Die eng mit dem Kölner Schauspiel verbundene Tanzgruppe, die „Diversität“ auf ihre Fahnen geschrieben hat, füllt den zweiten, wesentlich kürzeren Teil des Abends mit Strawinskys Ballett Petruschka. Auf ein Bühnenbild wird verzichtet, der Fokus richtet sich auf die Tänzer, für die Lena Schmid fantasievolle, teilweise an Picasso und Oscar Schlemmer angelehnte Kostüme kreierte. Choreograf Richard Siegal lässt Petruschka, ganz im Sinne der Diversität, von einer Frau tanzen. Margarida Isabel de Abreu Nero verzichtet bei aller Biegsamkeit auf puppenhafte Klischees, sondern unterstreicht die menschlichen Züge der Rolle, die als Außenseiterin am Ende ebenso zugrunde geht wie der Zwerg in Zemlinskys Oper.

Anders als in seinen „eigenen“ Stücken geht Siegal sparsam mit experimentellen Bewegungsmustern um. Er lässt viel auf Spitze tanzen, bringt aber so viel Ausdruck in die Konfliktszenen, aber auch so viel Vitalität in den Jahrmarktstrubel, dass der langanhaltende Beifall des Premierenpublikums vollauf gerechtfertigt ist. Zumal die Produktion nicht nur als Ensembleleistung beeindruckt, sondern auch mit solistischen Höhepunkten wie der von Long Zou in der Partie der Ballerina.

Pedro Obiera