O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Auf der Suche nach dem Paradies

WRITTEN ON SKIN
(George Benjamin)

Gesehen am
1. Dezember 2020
(Premiere als Livestream)

 

Oper Köln, Staatenhaus Deutz

Ganz lässt sich auch die Kölner Oper vom kulturellen Lockdown nicht in die Knie zwingen. Zwei Premieren streamt das Haus, zum vorgesehenen Termin Live Korngolds Oper Die tote Stadt in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca und zuvor die Aufzeichnung der im November einstudierten Oper Written on Skin von George Benjamin. Leider beschränkt man sich vorerst auf eine einmalige Ausstrahlung der Premieren. Ob wenigstens Die tote Stadt irgendwann auch vor Publikum gezeigt werden kann, steht in den Sternen. Für Benjamins Erfolgsstück dürfte es bei der einmaligen Präsentation bleiben. Und das ist schade. Handelt es sich doch nicht nur um ein im besten Sinne des Wortes ausgesprochen „starkes“ Stück des zeitgenössischen Musiktheaters, sondern auch um eine besonders liebevoll einstudierte Produktion unter Leitung von Generalmusikdirektor François-Xavier Roth, an der das Team anderthalb Jahre gearbeitet hat.

Nicht nur künstlerisch kann die „Premiere“ überzeugen, auch die Online-Präsentation ist absolut professionell ausgerichtet. Sowohl in akustischer Hinsicht, auch wenn die Tonqualität natürlich stark von der heimischen Abspielanlage abhängt, als auch in der optischen Aufbereitung mit einer sehr flexiblen und werkdienlichen Kameraführung. Wobei trotz rascher Perspektivenwechsel zwischen Detail- und Totaleinstellungen keine ablenkende Unruhe entsteht.

Die Uraufführung der Oper in Aix-en-Provence vor acht Jahren schlug so hohe Erfolgswellen, dass die glänzende Produktion in 16 Städten von Tanglewood bis Dortmund und Köln gezeigt wurde. Allein in Deutschland folgten vier Neuinszenierungen. Als erstes Haus tat sich wenige Monate nach der Uraufführung die Bonner Oper mit einer Produktion hervor, die die Repertoire-Tauglichkeit des Werks bestätigte.

Written on Skin taugt auf den ersten Blick zum Psychothriller, und George Benjamin versteht es, die emotionalen Wirren und Spannungen der Protagonisten in sinnlich nachvollziehbare Klanglandschaften zu formen. Das Werk wirkt modern, ohne verkrampft modern klingen zu wollen. Emotional bewegend, aber ohne Gefühlspathos. Keine einfach zu realisierende Musik, aber auch keine, die die Möglichkeiten eines guten Opernhauses überfordert.

Und auch die Handlung hat ihre Reize. Librettist Martin Crimp bezieht sich auf eine mittelalterliche Dreiecksgeschichte, die Boccaccio in seinem Dekamerone verewigt hat. Da heißt es: „Herr Guillem von Roussillon gibt seiner Frau das Herz des Herrn Guillem von Cabestaing zu essen, den sie geliebt und den er getötet hat. Als sie es erfährt, stürzt sie sich aus einem hohen Fenster herab und wird mit ihrem Geliebten begraben“.

Ganz so geradlinig geht es in der englischen Oper nicht zu. Der „Protector“ schafft sich mit harter Hand eine ideale „Ordnung“ nach seiner Vorstellung und beauftragt einen jungen Mann, seine Verdienste in einem Buch zu verewigen. Bei den Recherchen kommt es zur Liaison mit Agnès, der unterdrückten Frau des Protectors. Es folgt das bekannte unappetitliche Ende. Verwoben ist das Ganze mit Anspielungen an das Buch mit den sieben Siegeln und der Apokalypse aus der Johannes-Offenbarung, indem der geheimnisvolle junge Mann ein zwitterhaftes Dasein als Mensch und Engel fristet und dem Stück einen religiösen Hauch verleiht.

Die Ordnung des „Protectors“ präsentiert sich allerdings von Beginn an in bedrohlicher Schieflage. Seine Frau sieht er als sein Eigentum an, hält sie als Analphabetin von jeder Bildung fern, so dass es zu einer vielschichtigen, letztlich auch sexuellen Begegnung mit dem jungen Mann kommt. Das Ende ist brutal: Der Protector reißt dem Jungen das Herz aus dem Leib und serviert es seiner Frau zum Diner, die sich daraufhin aus dem Fenster stürzt. So steht es zumindest im Libretto.

Auf den Thriller-Faktor legt Benjamin Lazar in seiner Kölner Inszenierung weit weniger Wert, als es das Textbuch erwarten lässt. Und auch weniger als Alexandra Szemerédy und Magdolina Parditka in ihrer wesentlich realistischer ausgerichteten Bonner Inszenierung. In der kargen Wüstenlandschaft von Ausstatterin Adeline Caron, die nur durch eine sandige Erhebung und einige dürre Bäume ergänzt wird, kombiniert mit den zu Beginn orientalisch drapierten Kostümen, wird eine Bibelszenerie assoziiert. Verstärkt durch den Auftritt dreier nebulöser Engel, die immer wieder in menschlicher Gestalt in die Handlung eingreifen. Der junge Mann, der in seiner Eigenschaft als Engel dem Protector ein Szenario menschlicher Gräuel ins Bewusstsein ruft, verleitet den Protector zu der Bitte, ihm nicht nur die Hölle, sondern auch das Paradies zu zeigen. Antwort: „Das ist das Paradies“.

Eine pessimistische, existenzialistisch geprägte Weltsicht, die Lazar wie einen bösen, irrealen Traum anlegt. Auch Agnès‘ Suizid spart er aus. Agnès verlässt die Wüste lebend und lässt eine einsame Welt zurück. Die Figuren bewegen sich ruhig wie Schattenwesen, die Scheußlichkeiten von aufgespießten Kindern bis zum Verzehr des Herzens werden verkündet, keineswegs illustriert, so dass sich der Eindruck eines allegorienhaften Mysterienspiels einstellt. Ein Ansatz, den Lazar konsequent ausführt. Dabei profitiert die Feinarbeit, die er in kleine, detailliert ausgearbeitete Gesten und Bewegungsabläufe investiert, von der aufmerksamen Kameraführung, so dass die gestreamte Version in dieser Hinsicht sogar mehr Finessen deutlich machen kann als ein Live-Besuch im riesigen Bühnenareal des Staatenhauses. Allerdings dürfte das nur für derart kammerspielhaft fein gestrickte Inszenierungen gelten.

Am rechten Rand der Wüstenlandschaft ist das groß besetzte Orchester postiert. François-Xavier Roth unterstützt mit dem Gürzenich-Orchester die vorzügliche Sängerschar präzise, geht den Fieberschauern der Partitur minutiös nach und entfaltet ein schillerndes, durch Gambe und Glasharmonika zusätzlich eingefärbtes Klangbild. Die Sänger klingen in der Übertragung sehr präsent. Und da hat man nicht an großartigen Sängerdarstellern gespart. Robin Adams verkörpert mit seinem markanten, aber wandlungsfähigen Bariton einen Protector von der herben Strenge eines Herzogs Blaubart. Die Nähe zu Bartóks Geniestreich unterstreicht Magali Simard-Galdès in der komplexen Partie der Agnès, die zunächst, wie an einer unsichtbaren Leine geführt, ein fremdbestimmtes Leben fristet und sich im Laufe des anderthalbstündigen Werks immer stärker befreit und am Ende den Ausbruch wagt. Eine ebenfalls anspruchsvolle Gesangspartie, die die Sopranistin stimmlich hinreißend ausfüllt.

Grandios auch Cameron Shahbazi in der Countertenor-Partie des Engels und des jungen Mannes. Eine federleicht geführte Stimme mit einem faszinierenden androgynen Timbre. Judith Thielsen und Dino Lüthy als weitere Engel sorgen mit ihrem Temperament für einige lebhafte Kontraste. Von introvertierter Inspiration getragen sind die von Margaux Blanchard schlicht und eindringlich vorgetragenen Soli auf der Viola da Gamba.

Beifall gibt es natürlich nicht. Die Kölner Oper hat mit Written on Skin das unter den gegebenen Umständen maximal Erreichbare umsetzen können. Künstlerisch wie auch in der medialen Präsentation. Dass diese großartige Produktion nach einer einzigen Aufführung jedoch in der Versenkung verschwinden soll, das sollte sich die Intendanz noch einmal überlegen.

Pedro Obiera