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Willkommen in Wien

WIENER MELANGE
(Karin Punitzer, Andreas Orwat)

Gesehen am
12. Juni 2020
(Video on demand)

 

Hinterhofsalon, Köln

Inzwischen hat sich der Kölner Kulturkanal 20-20.live im Internet zu einer festen Größe entwickelt. Wenn Christina und Gerhard von Richthofen allwöchentlich zum Konzert im Kölner Hinterhofsalon von Anja Reuther einladen, weiß man, es muss einem nicht immer gefallen, aber es gibt eigentlich jeden Donnerstag eine neue Überraschung. Und da schaut man eigentlich immer gern mal vorbei.

In dieser Woche sind es Karin Punitzer und Andreas Orwat, die im Hinterhofsalon seit sieben Jahren Stammgäste sind. Anja Reuther hat die beiden miteinander bekannt gemacht, sie tauschten sich aus, fanden, dass sie zueinander passen und treten seitdem gemeinsam auf. Jetzt also auch bei 20-20.live. Ehrensache, dass Reuther die beiden anmoderiert, anstatt, wie gewohnt, Christina von Richthofen, die in der kommenden Woche diese Rolle wieder übernehmen wird. Punitzer ist Schauspielerin, kommt gebürtig aus Wien, lebt seit 20 Jahren in Köln und kann – und will – ihre Herkunft nicht verleugnen. Auf einer Reise hat sie die Stadt am Rhein kennen- und lieben gelernt. Zum Bleiben bewogen hat sie schließlich, na, die Liebe. Orwat hat in Köln, Salzburg und Freiburg Musik studiert und bewegt sich seitdem als Tastenkünstler in den unterschiedlichen Welten wie Jazz und Klassik. Auch vor dem Volkstümlichen hat er keine Angst. Und das ist gut so, wenn man eine Reise nach Wien wagen will.

Karin Punitzer – Bildschirmfoto

Wien, das ist europäische Geschichte, das ist Weltanschauung, eine ganz eigene Bevölkerung, nirgendwo siehst du mehr Menschen mit einem Musikinstrument an einem ganz gewöhnlichen Arbeitstag durch die Fußgängerzone laufen. Wien ist Schmäh. Wien ist auch eine ganz gewöhnliche Großstadt mit all ihren Problemen und Vorteilen in kultureller Hinsicht. Wie willst du diesen Kosmos in einem Abend erfassen? Es ist schwierig, aber Punitzer und Orwat versuchen es. Wenn du hörst, dass die Welt untergeht, dann gehst du nach Wien, weil dort alles erst 50 Jahre später stattfindet. Sinngemäß wird dieses Zitat Gustav Mahler zugeschrieben. Aber arg falsch ist es nicht. Und: Man könnte auch sagen, es gebe keine Vorurteile über Wien. Es ist alles wahr. Das versucht Orwat mit seinen Piano-Stücken zu untermauern, und Punitzer unterstreicht es mit Zitaten.

Ein Schlager jagt den nächsten. Wiener Blut, Jetzt trink ma noch a Flascherl Wein – unvergessen der Auftritt von Hans Moser – Tritsch Tratsch Polka, Fiakerlied, Dein ist mein ganzes Herz und An der schönen, blauen Donau werden von Orwat in interessanten Intonationen präsentiert. Da schlägt bis heute das Herz eines jeden Wien-Fans höher. Unterbrochen wird diese Bestenliste von einer Menge literarischer Zitate, die Punitzer vorträgt. Nicht immer ganz glücklich, aber es reicht, um den Charakter Wiener Persönlichkeit zu erfassen. Im Mittelpunkt steht das Kaffeehaus mit all seinen Eigenheiten und Gemütlichkeiten. Wer wird zum Stammgast erhoben, wie wirken sich die Krisen der Jahrhunderte aus, wie viel Höflichkeit ist erbeten und wie viel Verbindlichkeit? Punitzer gibt Antworten in literarischen Zitaten. Da bleibt die Gegenwart ausgespart, aber das will man ja eigentlich auch als Wien-Nostalgiker.

Es ist das erste Mal, dass einem die gleichbleibende Ausleuchtung ein bisschen auf den Nerv geht, vielleicht, weil’s das Sentiment berührt. Nach gut einer Stunde ist Schluss mit Wien-Feeling. Das wunderbare Programm ist zu Ende, kurzer Applaus ertönt aus der Regie. Aber die ausgefallenen Konzerte gehen weiter. In der kommenden Woche gibt es Classical Delights – endlich mal ein englischer Titel – von der Violinistin Hayley Bullock und dem Cellisten Dmitrij Gornowskij. Bis Ende Juli ist das Programm festgelegt, im August pausiert der Kulturkanal, und was danach passiert, wenn wir wieder halbwegs im „normalen Leben“ angekommen sind, wird man sehen. Schließlich ist der Kulturkanal immer für eine Überraschung gut.

Michael S. Zerban