O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Martin Miseré

Aktuelle Aufführungen

Die Kommunikation der vielen

VIBES
(Britta Lieberknecht)

Besuch am
16. September 2021
(Uraufführung)

 

Halle der Alten Feuerwache, Köln

Seitdem die Kulturarbeiter glauben, sich nicht mehr an geltende Rechtschreibregeln halten zu müssen, und fleißig mithelfen, die Gesellschaft zu spalten, sind die Schleusen geöffnet – was zu erwarten war. Neuerdings kommt die Pünktlichkeit stark außer Mode. Heute Abend ist eine der schönsten Begründungen zu hören. „Wir warten noch auf Gäste“, ist da zu hören, um eine 20-minütige Verspätung des Aufführungsbeginns zu rechtfertigen. Neben der Absurdität einer solchen Aussage muss allerdings die Frage erlaubt sein, was das wohl für Gäste sein müssen, die sich die Respektlosigkeit erlauben, andere Besucher auf sich warten zu lassen. Das können mit Sicherheit keine sein, auf die es sich zu warten lohnt. Aber womöglich wird Unpünktlichkeit inzwischen als besonderer Ausdruck künstlerischer Freiheit gewertet. Da kann man sich als älterer Mensch freuen, wenn man eine der knappen Sitzgelegenheiten im Innenhof ergattert.

Ausreichend Sitzplätze gibt es dann in der Halle der Alten Feuerwache in Köln. Die sind entlang des Randes der rechteckigen Halle aufgestellt. Am Kopfende sind die Technik und ein Schlagzeug aufgebaut. Das Stäbchenparkett auf dem Boden dürfte ältere Besucher an die Schulsporthalle ihrer Kindheit erinnern. So in etwa ist auch das Flair der Halle. In der offenen Deckeninstallation sind zahlreiche Scheinwerfer untergebracht. Die allerdings erlöschen erst mal, damit endlich die Uraufführung des neuesten Werks von Britta Lieberknecht und ihrer Compagnie beginnen kann. Schwingungen, ein Wort, das man lange assoziativ in sich nachhallen lassen kann, scheint zu verwegen für eine „moderne“ Compagnie, weil sie ja auch international besetzt ist. Also lautet der Titel der einstündigen Choreografie Vibes. Bedeutet dasselbe, verstehen aber nicht so viele Leute, löst keine Assoziationen aus, klingt aber manchen Menschen modern. Na, denn.

Hinter der Tür am Kopfende der Halle, auf der das Schild „WC“ angebracht ist, wird es laut. Stimmengewirr brandet auf. Offenbar hat sich hier eine Gruppe junger Leute eine Menge zu erzählen. Bis die Tür geöffnet wird. Die Gespräche verstummen, staunend betreten sechs Menschen den Saal, ein unbekanntes Gebiet, das es zu entdecken gilt. Das wird bis zum Ende der Aufführung in wechselnden Lichtstärken, immer aber hell ausgeleuchtet. Eine echte Atmosphäre entsteht hier nicht, aber das ist auch nicht gewollt. Denn an diesem Abend geht es nicht so sehr um Stimmungen, sondern mehr um eine, so der Untertitel, Tanzperformance im Raum zwischen den Worten, also um Kommunikation. Die braucht keine Vorbedingungen, und so erscheint eine Hand voll Tänzer in T-Shirt und Trainingshose, die erst einmal versuchen, sich einander anzunähern, ehe sie sich paarweise beschnuppern. Danach fällt die Gruppe auseinander. Verschiedenste Formen der Kommunikation werden ausprobiert. Da gibt es den Versuch der Kontaktaufnahme zum Publikum, einzelne Worte werden laut, Teilsätze fallen, so richtig will das alles nicht in Gang kommen.

Aber Clara Thierry, Dario Wilmington, Jacob Gómez Ruiz, Maria Flores Mujica und Neus Barcons Rosa, fünf ausgezeichnet ausgebildete Tänzer, bleiben am Ball. Sie versuchen es mit körpereigenen Rhythmen, aber auch mit Kommandovorgaben. Eine der stärksten Stellen, wenn die Tänzer Hebungen zeigen, bei denen man schon als Zuschauer außer Atem gerät. Schließlich versucht es Wilmington mit einer vertanzten Erzählung von seiner Schwester, die Trickbetrügern auf den Leim geht. Ruiz darf ein Lied singen. Die Lücke in der Kommunikation bleibt, reißt immer wieder auf, was dem Abend etwas arg Szenenhaftes verleiht. Schließlich aber findet die Gruppe doch wieder zusammen. Und siehe da, mit der körperlichen Öffnung zu den anderen scheint auch so etwas wie Frieden einzukehren. Ein friedlicher Schluss, aus dem man vielleicht etwas lernen kann.

Über viele Jahre war Musik in der zeitgenössischen Tanzszene verpönt. Geradezu feindselig wurde jede Verbindung von Tanz und Musik vermieden, weil es sowieso nie die richtige Musik gab, um die im Tanz dargebotenen Leistungen in angemessener Weise zu würdigen, ja, vom Tanz ablenkte und ihn verwässerte. Seit einigen Jahren ändert sich diese Haltung bei vielen Choreografen, die dann auch endlich den richtigen Weg gehen. Sie lassen sich von Komponisten Musik oder wenigstens Klangcollagen maßgeschneidert auf ihre Choreografien anpassen. So arbeitet Cocoon Dance mit Jörg Ritzenhoff zusammen, Alexandra Waierstall liefert kaum noch eine Arbeit ohne die dazugehörige Komposition von Hauschka ab und Stephanie Thiersch feiert die Erfolge ihrer Compagnie Mouvoir praktisch nur noch in Zusammenarbeit mit Brigitta Muntendorf, um ein paar wenige Beispiele zu nennen. Lieberknecht hat den „Musikperformer“ Gerno Bugomil an ihrer Seite. Aber der darf allenfalls mal in die Trompete hauchen oder ein paar Mal möglichst unauffällig die große Trommel wummern. Dabei zeigt er ganz zum Schluss mit einer jazzig angehauchten Einlage, dass mehr davon den Arbeit eher bereichert als gefährdet hätte.

Die Besucher sind es zufrieden. Darunter etliche, die die Arbeit von Lieberknecht seit vielen Jahren begleiten. Auch wenn sie den Schluss aus unerfindlichen Gründen nicht mitbekommen, fällt der Applaus warm und herzlich aus. Weitere Vorstellungen gibt es am gesamten kommenden Wochenende.

Michael S. Zerban